Geheimdienste gehen davon aus, dass bereits Tausende IS-Terroristen als Schläfer den Weg vorerst nach Deutschland und von dort zu weiteren europäischen Ländern geschafft haben. - Europa muss sich auf eine Terror-Kriegsführung einstellen, gegen die es bisher kein wirksames Rezept gibt.
Geheimdienstkreise in der Türkei und Beobachter in Syrien melden, dass in den letzten drei Wochen – seit auch IS-Stellungen von russischen Luftstreitkräften bombardiert wurden – über 600 Kämpfer nach Europa gereist sind. Es handelt sich dabei um Personen, die schon zuvor in Europa lebten und an der Seite der IS kämpften und nun wieder zurück kehrten. Die meisten, um unerkannt zu bleiben, mit gefälschten syrischen Pässen.
Diese sind in Syrien – in professionellen Fälscherwerkstätten massenweise hergestellt – für umgerechnet 1’500 Dollar zu haben. Geheimdienstliche Erkenntnisse – nicht zuletzt nach den Terroranschlägen in Paris – zeigen klar, dass sich die meisten von ihnen mit den riesigen Fluchtwellen via Libyen/Lampedusa und vor allem via die Türkei über die Balkan-Route „zurück nach ihren Heimatländern spülen lassen“. Gleichzeitig lassen sich auch echte IS-Kämpfer in den Flüchtlingsströmen mitschwemmen.
Viele von ihnen sind – so die Langzeitstrategie der IS – vorerst als Schläfer vorgesehen, die dann auf Abruf für Terroranschläge einsetzbar sind.
Geheimdienstkreise rechnen damit, dass so schon Tausende solcher Schläfer den Weg vorerst nach Deutschland und von dort zu weiteren europäischen Ländern erfolgreich geschafft haben.
Da sie meistens auch mit genügend Geld ausgerüstet sind, können sie sich mühelos überall einnisten. Ein britischer Geheimdienstoffizier nannte es einem unserer Korrespondenten gegenüber „die grösste Zeitbombe, die wir fahrlässig nach Europa reinliessen“. Die Ereignisse in Paris zeigen deutlich, dass hier keine idealisierten Selbstmörder mehr am Werk sind, sondern hochprofessionell herangezüchtete Terroristen, denen das Leben nichts (mehr) bedeutet.
Wolfgang Sofsky, deutscher Journalist und fundierter Kenner der Materie, bringt die Ziele des IS auf den Nenner: „Mit geringstem Aufwand an Waffen und Personal die maximale Zerstörung und Tötung von Menschen erzielen“. So banal und so grausam! Zuerst wurde die Trennlinie zwischen Krieger und Zivilist aufgehoben. Und für die Täter zählt einzig nur das Ausmass der Zerstörung und des Schadens.
Es ist der Krieg zwischen dem Kalifat und dem Westen. Und der IS versucht, mit Brachialgewalt seine Ziele durchzusetzen. Es sind nicht mehr einfach Terroristen, die sinnlos wüten, sondern trainierte und ausgebildete Krieger, die mit terroristischen Mitteln kämpfen und auch bereit sind, dafür zu sterben.
Der IS ist nicht nur eine militante Miliz. „Er ist eine parastaatliche Theokratie mit Sozialfürsorge, Steuersystem, drakonischer Indoktrination, sexueller Sklaverei, Geheimdiensten, regulären Armeeverbänden und internationalen Brigaden zugereister Terrorkrieger.“
Diese sind zuständig für die Globalisierung des Terrorkriegs. „Im Nahen Osten setzt er Terror als Taktik der Zermürbung ein. Städte und Gebiete, die noch nicht erobert sind, werden durch Anschläge für den finalen Sturmangriff präpariert.
Autobomben, Selbstmordattentate, Massaker sind in Bagdad, Damaskus, in Libanon, in Jordanien und der Türkei Alltag. Der Schrecken hat eine sichere territoriale Basis: das Gebiet des „Kalifats“. Er soll lokale Obrigkeiten ausschalten, Verteidiger einschüchtern und die Bevölkerung in Panik versetzen oder zur Massenflucht (!) veranlassen. Der Schrecken zerstört das Vertrauen in die soziale Ordnung und paralysiert die Gesellschaft durch Angst“ .
Die Analyse von Wolfgang Sofsky und weiteren Beobachtern zeigt klar, dass anders als im Nahen Osten der Terror nicht auf die Besetzung Frankreichs oder die Erbeutung von Frauen, Geld oder Öl, zielt. Es ist auch kein Rache- oder Vergeltungsakt. Es ist so, dass der Krieg asymmetrisch geführt wird.
Terrorkrieg kennt keine Schützengräben, Grenzbefestigungen, Aufmarschgebiete, Ruhezonen. Jeder Ort kann und wird und soll zum Schlachtplatz werden: ein Hotel, ein Marktplatz, ein Pendlerzug, eine Touristensiedlung, eine Bar, ein Stadion.
Vorläufiges Fazit: Die Trennlinie zwischen Krieger und Zivilist ist aufgehoben, Regeln und Konventionen des Krieges sind gestrichen. Schlachten kennt der Terror nämlich nicht. Er ist und bleibt wahllos, unberechenbar.
Die Gewaltmaschinen des industriellen Kriegs zählen wenig. Es genügen die Waffen, die der Einzelne mit sich trägt. Ein Kampf findet nicht statt, es wird nur „abgeschlachtet“. Und das Schlimmste: Die Opfer haben keine Chance, die Wechselseitigkeit von Angriff und Verteidigung ist aufgehoben. Europa muss sich auf eine Terror-Kriegsführung einstellen, gegen die es bisher kein wirksames Rezept gibt.