Am 6. Mai - mitten in der Griechenlandkrise - stürzte der Dow Jones um 10% in die Tiefe - um sich gleich danach wieder zu erholen. Über die wirklichen Hintergründe dieses Crashs wurde lange gerätselt. Nun soll angeblich ein einziger fauler Trader schuld an dem Kursdebakel sein.
DOW JONES INTRADAY 6.5.2010
Von Torsten Ewert
Sie erinnern sich sicherlich: Am 6. Mai 2010 sorgte ein Minuten-Crash an der US-Börse für einen heftigen Schock. Innerhalb von Minuten sanken die Kurse der großen Indizes um fast 10 %. Der Dow-Jones-Index verzeichnete den größten Verlust (in Punkten) seiner Geschichte. Einzelne große Aktien verloren kurzzeitig über 99 % ihrer Marktkapitalisierung und wurden nur noch als Penny Stocks gehandelt.
Erstaunlicherweise war der Spuk nach wenigen Minuten wieder vorbei. Die Indizes schlossen unter massiv erhöhtem Volumen „nur“ ca. 3 % niedriger.
Faulheit in der Krise kostet Billionen Dollar
Eine gemeinsame Untersuchungskommission der US-Börsenaufsicht SEC und der Terminmarktaufsicht CFTC stellte Ende September nun ihren Abschlussbericht zu diesem Ereignis vor. Kurzes Fazit: Ein unvorsichtiger Händler einer großen Fondsgesellschaft hat dieses Ereignis ausgelöst.
Zu dieser Zeit herrschte an den Märkten einige Beunruhigung aufgrund der Griechenland-Krise. Daraufhin soll der Händler am 6. Mai eine Short-Absicherungsposition für eine bestehende Aktienposition über 75.000 Kontrakte im elektronischen S&P-500-Future (E-mini) aufgebaut haben, und zwar über ein automatisches System.
Obwohl dieses System es erlaubt, alle möglichen Bedingungen für die Platzierung einer größeren Order zu bestimmen, hätte der Händler nach Angaben der Untersuchungskommission nur eine relativ laxe Volumenbegrenzung eingegeben, welche die Ordergröße anhand des unmittelbar zuvor gehandelten Gesamtvolumens im Markt regelt.
Der Markt sanktionierte den Fehler sofort
De facto kam dies einer unlimitierten Verkaufsorder gleich. Denn diese 75.000 Kontrakte entsprachen damals etwa 2,5 % des täglichen Handelsvolumens, also einer schon sehr erheblichen und damit marktbewegenden Position.
Natürlich dauerte es nicht lange, bis andere Marktteilnehmer auf diesen Verkäufer aufmerksam wurden und ihrerseits durch entsprechende Trades das Volumen in die Höhe trieben. Die unselige Volumenbegrenzung hätte nun – so die Kommission – das steigende Volumen registriert und daraufhin die Ordergrößen des Händlers weiter erhöht, was den Markt weiter nach unten trieb und nicht nur immer neue Akteure auf den Plan rief, sondern auch zur massenweise Auslösung von Stop-Loss-Orders führte.
Der Bericht beschreibt sehr minutiös, wann welche Trader-Gruppe was in welcher Menge verkaufte und wie daraufhin die Liquidität der Käufer immer mehr austrocknete. Erst als eine automatische Regelung der Börsen, die solche Lawineneffekte verhindern soll, den Handel für fünf Sekunden unterbrach, habe sich der Markt stabilisiert.
Bewahrte die Handelsunterbrechung den Markt vor einem Crash?
Tatsächlich bildete sich das Tief für den E-mini S&P-500-Future genau zu diesem Zeitpunkt der automatischen Handelsaussetzung. Doch eben dies sowie einige andere Details in dem Bericht werfen, wie so häufig, mehr Fragen auf, als sie beantworten.
So erwähnt der Bericht, dass in den zwölf Monaten vor dem 6. Mai genau zwei weitere Orderblöcke mit gleichem oder größerem Volumen in den Markt gegeben wurden. Eine davon kam von derselben Gesellschaft, deren Händler nun der Auslöser des Flash Crash gewesen sein soll.
Damals habe die Ausführung der Order über fünf Stunden gedauert. Allerdings seien dabei alle Sicherungsmöglichkeiten genutzt worden, die normalerweise eine solche Lawine verhindern. Also war offensichtlich nicht Ahnungslosigkeit, sondern eher Faulheit Auslöser des Crashs – der Händler wollte nicht wieder fünf Stunden mit dieser Order zu tun haben.
Die Dummheit ist unendlich, unser Geld aber leider nicht...
Als Beobachter steht man etwas fassungslos vor solcher Sorglosigkeit angesichts der Summen, mit denen dort jongliert wird. Aber eingedenk der Dimensionen der Finanzkrise und eines ähnliches Falles bei der französischen Société Générale um den Händler Jérôme Kerviel im Januar 2008 erscheint eine solche „Dummheit“ inzwischen leider ziemlich wahrscheinlich.
Am 6. Mai erreichte unser Händler jedenfalls sein Ziel, schneller fertig zu sein, sehr überzeugend: Innerhalb von 20 Minuten war er seine 75.000 Kontrakte los. Das entspricht etwa dem üblichen Handelsvolumen in diesem Zeitraum an einem normalen Börsentag! Sprich, der Händler hat quasi die Börse als Alleinunterhalter beschäftigt.
Da der eigentliche Flash Crash erst ins Rollen kam, als die Order des Händlers bereits zehn Minuten im Markt war und wahrenddessen fast die Hälfte der Kontrakte über den Tisch gegangen war, gab es eigentlich genug Zeit um festzustellen, dass angesichts dieser Ausführungsgeschwindigkeit irgendwas nicht stimmt (10 Minuten sind im professionellen Trading eine Ewigkeit!).
Aber gut, wir wissen nicht, welche Konsequenzen diese Aktion für den Händler hatte. Vielleicht war es tatsächlich nur Leichtfertigkeit, und er ist seinen Job nun los. Doch selbst wenn er die „Vorlage“ gegeben hat, das „Tor“ hat er nicht geschossen...
Waren Super-Trader die eigentlichen Auslöser des Flash Crashs?
Denn nach Angaben des Berichts spielten sich die entscheidenden Ereignisse nur innerhalb von drei bis vier Minuten ab. Und insbesondere, dass das Tief an diesem Tag genau mit der automatischen Handelsaussetzung zusammenfiel, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass automatische High-Speed-Tradingsysteme, sogenannte High Frequency Trader (HFT), ganz entscheidend in diesem Crash involviert gewesen sein könnten.
Zwar erwähnt auch der Bericht die Beteiligung dieser Trader und Systeme, er hängt jedoch ihre Bedeutung auffallend tief. So werden an zwei Stellen Zahlen zum Handelsvolumen der HFTs ohne weitere Wertung genannt. Allerdings ergibt sich daraus, dass allein das HFT-Tradingvolumen in den drei Minuten kurz vor der Handelsaussetzung etwa das Zehnfache des üblichen Volumens betrug und für 33 % des gesamten Volumens in diesem Zeitraum verantwortlich war.
In den 15 Sekunden unmittelbar vor der Handelsaussetzung agierten die HFTs nahezu unter sich (49 % des Handelsvolumens) und produzierten dabei das 30fache des üblichen Volumens während eines normalen Tages!
Dass sich der Markt nach der Handelsaussetzung unmittelbar erholte, würde sich dann dadurch erklären, dass die HFT-Systeme nicht mehr im Markt waren – sie schalten nämlich in solchen Sondersituationen in der Regel ab, da ihre Algorithmen dabei „durcheinandergebracht“ werden...
Auffälliges Schweigen zum Einfluss der High Frequency Trader
Das Problem ist nun weniger der wahrscheinliche Einfluss der HFTs (dieser ist Experten durchaus bekannt), als vielmehr die auffallend geringe Aufmerksamkeit der Behörden dafür. In den Medien wird in diesem Zusammenhang auf die intensive Lobbyarbeit der (finanzstarken) HFT-Firmen verwiesen sowie auf personelle Verquickungen zwischen ihnen und ehemaligen Angehörigen der Aufsichtsbehörden, die dort inzwischen als „Berater“ angeheuert wurden.
Auch die Börsenunternehmen selbst zeigen wenig Interesse, diesen Tradern das Handwerk zu legen. Denn ihr Geschäftsmodell funktioniert umsatzbezogen, und die größten Umsätze machen nun mal – die HFTs!
Nichtssagende Schlussfolgerungen verwirren die Öffentlichkeit
Bezeichnend sind daher die Schlussfolgerungen, die der Bericht aus dem Flash Crash zieht. An erster Stelle wird genannt: „...unter angespannten Marktbedingungen die automatische Ausführung einer großen Verkaufsorder extreme Preisbewegungen auslösen...“ Diese Erkenntnis ist völlig bedeutungslos, denn sie ist eigentlich das A und O jedes Händlers, der in engen Märkten tätig ist (und wer mit riesigen Positionen handelt, für den ist auch der größte Markt „eng“!).
Einzige konkrete Maßnahme bisher ist die Einführung strikter Regeln für die Auslösung einer automatischen Handelsaussetzung – ein Instrument, das beispielsweise im DAX seit Jahren gang und gäbe ist.
Es gibt auch andere Daten, Interpretationen und Schlussfolgerungen
So verwundert es auch nicht, dass andere Beobachter zu anderen Erkenntnissen kommen. So will der Datendienstleister Nanex zum Beispiel herausgefunden haben, dass in den wenigen entscheidenden Minuten vor der Handelsaussetzung (der Zeitraum deckt sich mit den Angaben des offiziellen Berichts) eine auffallend hohe Anzahl von sogenannten Scheinorders platziert wurde.
Diese werden nur für Sekundenbruchteile eingestellt und danach sofort wieder gelöscht. Eine echte Kauf- oder Verkaufsabsicht steckt nicht dahinter. Solche Orders erfüllen nur taktische Funktionen der HFT-Algorithmen.
Allerdings kann ein solcherart extrem erhöhtes Orderaufkommen die (langsameren) Börsensysteme unter Druck bringen, z.B. durch verzögerte Weiterleitung der Börsendaten an die regulären Händler und Trader. Laut Nanex war ein solches Phänomen möglicherweise die eigentliche Ursache für den Flash Crash – auch wenn besagter fauler Händler vorher den Anlass dazu geliefert haben sollte. Denn wie gesagt: Bevor die Lawine schließlich losbrach, war dessen Order schon etliche Minuten im Markt...
Nanex schlägt vor, diesem Treiben mit einer ziemlich einfachen Maßnahme wirksam zu begegnen: Jede Order bleibt automatisch eine bestimmte Zeitlang gültig, z.B. 50 Millisekunden (= 0,05 Sekunden). Dies erlaubt es den meisten Trading-Systemen, auf diese Order zu reagieren und gegebenenfalls zu handeln. Ein HFT müsste demnach fürchten, dass seine Scheinorder doch zur Ausführung kommt – also unterlässt er sie.
Dass diese Maßnahme, die kaum Aufwand bei ihrer Umsetzung erfordert, nicht aufgegriffen, ja noch nicht einmal diskutiert wurde, lässt nun jede Menge Spielraum für Spekulationen. Schließlich sind auch die großen Market Maker an den Börsen, also die großen Banken, im HFT-Geschäft mächtig aktiv...
Privatanleger, aufgepasst!
Für Sie als Privatanleger ergeben sich natürlich ebenfalls Konsequenzen. Die klassische Absicherung mit Stop-Loss-Aufträgen geht unter solchen Umständen nämlich nach hinten los. Doch leider gibt es keinen 100prozentigen Schutz vor solchen oder anderen unvorhergesehene Kursverlusten. Im Idealfall haben Sie daher die Zeit und die Möglichkeit täglich zum Börsenschluss Kurse und Nachrichten Ihrer Depotpositionen zu prüfen und entschließen sich daraufhin erst zu einem Verkauf einer Position.
Bei der Langfristanlage mittels ETFs gilt es für Sie zu bedenken, dass diese Produkte ursprünglich für professionelle Anleger entwickelt wurden und von diesen auch weiterhin intensiv genutzt werden. Entsprechend heftig kann unter Umständen auch das „Trading“ der Profis in ETFs werden. Das führt – wie am 6. Mai – dann dazu, dass auch ETFs zeitweise stark unter Druck kommen. Hier wäre dann jeglicher Stop-Loss kontraproduktiv, da somit gegebenenfalls eine Ihrer wichtigen Langfristpositionen ausgestoppt würde – und das auch noch mit erheblichem Verlust!
Neue Marktbedingungen erfordern also auch von Privatanlegern entsprechend angepasste Verhaltensweisen. Hinterfragen Sie daher auch hin und wieder jede Börsen-„Weisheit“, auch wenn sie wer weiß wie oft als „unumstößlich“ herumgereicht wurde.
Denken Sie daran: Märkte und Produkte ändern sich – nur die handelnden Menschen meist nicht. Tun Sie es daher vor den anderen.