Nach Zwangsanleihe schon wieder krasser Fall von Realitätsverlust beim neuen DIW-Chef: Alle EU-Staaten sollten dem Euro beitreten. „Als überzeugter Europäer wünsche ich mir ganz langfristig einen europäischen Währungsraum mit allen 27 Mitgliedsländern.“ - Bankenunion soll Verwerfungen verhindern.
Die bisherige Integration in der Euro-Zone geht dem designierten Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) nicht weit genug: „Die Euro-Zone wurde ohne politische, fiskalische und Bankenunion gegründet. Langfristig sind diese Schritte aber notwendig, um den Währungsraum krisenfest zu machen“, sagte Marcel Fratzscher der Financial Times Deutschland (Freitagausgabe). Dabei hält er langfristig nicht nur den Verbleib Griechenlands, sondern sogar eine Erweiterung der Währungszone für wünschenswert. „Auf europäischer Ebene zeigen die Ergebnisse des EU-Gipfels von Ende Juni in die richtige Richtung: Eine europaweite Bankenunion trägt dazu bei, die Verwerfungen zu beenden“, sagte der Notenbanker. Dabei hat der künftige Institutschef allerdings noch weitreichendere Visionen. „Als überzeugter Europäer wünsche ich mir ganz langfristig einen europäischen Währungsraum mit allen 27 Mitgliedsländern.“
Sein künftiges Institut will der „überzeugte Europäer“ zu einer Top-Beratungsadresse für die deutsche Politik machen – auch mit neuen wissenschaftliche Ansätzen. Am Donnerstag beschloss das Kuratorium des Berliner DIW einstimmig, Fratzscher zum neuen Vorsitzenden des Vorstands zu berufen. Die Vertragsverhandlungen sollen zeitnah beginnen. Fratzscher, derzeit noch Abteilungsleiter bei der Europäischen Zentralbank, soll die Leitung des DIW zum 1. Februar 2013 übernehmen.
Erklärtes Ziel der Berliner Forscher ist es, im kommenden Jahr wieder an der prestigeträchtigen Gemeinschaftsdiagnose der Bundesregierung teilzunehmen, die bereits in den kommenden Wochen wieder neu ausgeschrieben wird. Beobachter rechnen dem größten und ältesten deutschen Wirtschaftsforschungsinstitut dabei gute Chancen aus. „Das Ziel für das DIW Berlin muss es sein, mittelfristig wieder in der Gemeinschaftsdiagnose zu sein – allein aufgrund der großen Tradition als Konjunkturforschungsinstitut“, sagte Fratzscher. Dafür will er speziell den Makrobereich, auch in der Politikberatung, ausbauen.
Dabei ist der 41-Jährige offen für neue Ansätze. „Die Krise hat gezeigt, dass Teile des Instrumentenkastens der Wirtschaftswissenschaft nicht dienlich waren – zum Beispiel haben wir die Verbindungen zwischen Realwirtschaft und Finanzmärkten noch nicht ausreichend verstanden“, sagte Fratzscher. Dazu hat der Makroökonom bereits selbst geforscht. Wichtig seien dabei auch Ansätze aus anderen Bereichen, wie der Psychologie und der Verhaltensökonomie. „Es wird wohl noch zehn bis zwanzig Jahre dauern, bis diese Ergebnisse der Verhaltensökonomie in Makromodellen voll Einzug gehalten haben, aber es wird definitiv kommen. Das DIW sollte hier eine Rolle spielen.“
Wissenschaftlich sieht sich Fratzscher weder als Keynesianer, noch in irgendeiner spezifischen wissenschaftlichen Schublade. „Ich zähle mich zu einer jüngeren Generation von Ökonomen. Ich bin wissenschaftlich weder rechts noch links einzuordnen, sondern bin ein empirisch orientierter Makroökonom“, so Fratzscher. Dabei war für ihn seine Erfahrung im Ausland sehr wichtig. „Sehr prägend war die Asienkrise, die ich hautnah in Indonesien miterlebt habe“, sagte Fratzscher. „Das sind Erfahrungen, die mir auch heute in der europäischen Krise sehr wertvoll sind.“
Aus der Asien-Krise lassen sich laut Fratzscher auch Lehren für die europäische Krise ziehen: Unter anderem habe sie gezeigt, wie gefährlich Ansteckung von einem Land auf das nächste sein kann. „Das Thema ist auch heute wieder ein Risiko.“ Kurzfristig sei der konjunkturelle Ausblick in Europa mit großen Unsicherheiten behaftet. „Wichtig ist, dass es der Politik gelingt, eine Ansteckung der Krise auf die andere Euro-Staaten zu vermeiden. Das ist eine der größten Gefahren für Italien und Spanien und damit den gesamten Währungsraum“, so Fratzscher.
Insgesamt sieht er jedoch Fortschritte in Europa. Es seien bereits wichtige Entscheidungen sowohl auf europäischer als auch auf Länder-Ebene getroffen, sagte der EZB-Ökonom. „Alle Euro-Südstaaten haben mit strukturellen und haushaltspolitischen Reformen begonnen, um wieder an Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen und die öffentlichen Defizite in den Griff zu bekommen. Nun geht es darum, alle Maßnahmen rasch umzusetzen.“ Hier sei Irland auf einem sehr guten Weg. Aber auch Länder wie Spanien, Portugal und auch Griechenland würden international konkurrenzfähiger.