Eines der Probleme, mit denen manals Börsianer täglich zu tun hat, ist die Gefahr, sich zuschnell auf bestimmte Überzeugungen festzulegen.
BestimmteAnalysen ergeben, dass der Markt steigen oder fallen soll und schon hateine festgefahrene Meinung die eigene Wahrnehmung fest im Griff.
Vondiesem Moment an werden Nachrichten, Kursverläufe, Konjunkturdatenund andere Indikatoren nur noch in Richtung dieser neu gewonnenenErkenntnis interpretiert. Störende Fakten, die auf ein anderesSzenario hinweisen, werden schlichtweg ausgeblendet. Nachrichtenhingegen, welche die eigene Überzeugung stützen, werdenhöher bewertet. In der Psychologie gibt es einen Begriff dazu, derdieses Phänomen treffend beschreibt: „SelektiveWahrnehmung“. Der Mensch nimmt nur das wahr, was er wahrnehmenwill.
Selektive Wahrnehmung in der Charttechnik
Gerade in der Charttechnik sehe ich immerwieder, dass Charttechniker nicht das analysieren, was tatsächlichim Chart zu erkennen ist, sondern lediglich das, was sie in den Charthineinsehen wollen. Da die Charttechnik sowieso schon eineAnalysemethode ist, die eine Vielzahl von Auslegungen zulässt,muss eine derartige selektive Wahrnehmung eines Charts geradezu insfinanzielle Verderben führen.
Andere Wahrnehmungsverzerrungen
Doch das sind nicht die einzigenStolpersteine. Viele Charttechniker neigen dazu, sich von weiterenWahrnehmungsverzerrungen leiten zu lassen. Einige suchen, wenn sie eineAbwärtsbewegung sehen, immer nach Umkehrhinweisen, andere sehenjeden Chart aus Gewohnheit bullisher / bearisher als er ist, je nachdem, was in den letzten Monaten / Jahren passiert ist. Und ganzerstaunlich, sogar der Rahmen um einen Chart kann eine Analysebeeinflussen. Dazu ein Beispiel:
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Das ist der Dow Jones Average von1896 bis 2009. Wenn Sie diesen Chart analysieren, auch ohne vielcharttechnisches Verständnis zu haben, geraten Sie leicht inGefahr, zu bearish zu werden. Dieser Aufwärtstrend kann doch nichtso weiter gehen, er muss nun einbrechen. Das liegt zum einem daran,dass in dem Chart einfach die Luft nach oben fehlt. Der Menschempfindet den oberen Rahmen als Begrenzung und kann sich ein„darüber hinaus“ nur schwer vorstellen. Zum anderenmag bei vielen diese Einschätzung auch daraus resultieren, dassman durch die vielen schlechten Nachrichten im Zusammenhang mit demCrash voreingenommen ist.
Chartanalyse des Dow Jones
Ein Chartanalyst würde nunfolgendes schreiben: „Es kam zu einem Ausbruchsversuch aus demlangjährigen roten Trendkanal, der immerhin knapp 70 Jahre Bestandhatte. Dieser Ausbruchsversuch wurde nicht bestätigt und mussdaher als Übertreibung eingestuft werden. Der Rückfall in denTrendkanal ist bearish zu werten. Wir müssen mindestens mit einemRückfall an die untere Trendkanallinie im Bereich derUnterstützung bei 4.000 Punkten rechnen (rotes Rechteck). Da einerÜbertreibung nach oben gerne auch eine Übertreibung nachunten folgt, ist sogar ein Trendbruch nach unten nichtauszuschließen. Weiter fallende Kurse mit einem Extrem-Szenariovon 1.000 Punkten sind denkbar.“
Vielleicht würde er nochanfügen: „Dieses Szenario weist darauf hin, dass dieaktuelle wirtschaftliche Rezession sich ausweitet und zu einer massivenWeltwirtschaftskrise führen wird.“ Soweit derChartanalyst. Der Sarg ist zu, wir können nun alle nach Hausegehen und ein paar letzte Stunden mit der Familie verbringen, bevor dergesamte Planet um uns herum das Licht ausmacht...
Ein Trick, um etwas mehr Objektivität zu finden
Es gibt aber einen Trick, um etwasmehr Objektivität in der Chartanalyse zu gewinnen. Wenn einKünstler, ein Musiker oder eine Manager in einer Sackgasse stecktund nicht mehr weiter weiß, wird von entsprechend versiertenQuellen (z.B. einem Coach) geraten, einmal das Blickfeld zuändern.
Im Leben ist das zuweilen rechtmühsam, in der Charttechnik hingegen sehr einfach.Tatsächlich rate ich auch erfahrenen Chartisten immer mal wieder:Dreht den Chart auf den Kopf und analysiert ihn dann noch einmal. Entfernt dabei das Ende des Kurses von den Rahmen,beziehungsweise versucht euch den Chart möglichst ohne solchebegrenzenden Rahmen anzusehen. Und genau das machen wir nun mit dem DowJones:
Wenn ich ihnen nur diesen Chartzeigen würde, was würden Sie spontan sagen? Sie sehen einenklaren Abwärtstrend, mit einer eindeutigen Mittellinie, wiegeht’s weiter? Ich habe es getestet und diesen Chart (ohne Zeit-und Punkteskala) an meine Kollegen geschickt, mit der Bitte um einespontane Analyse. Die meisten sehen einen eindeutigen Abwärtstrendund rechnen damit, dass er weiter fortgeführt wird. Da der Chartauf dem Kopf steht, bedeutet das für den realen Dow Jones:steigende Kurse. So ergibt sich eine ganz andere Analyse als im erstenChart.
Auch als ich nach einer genauerenChartanalyse fragte, war das Ergebnis ähnlich. Die meistenrechneten mit weiter fallenden Kursen, damit, dass der Kursverlauf nunum die Mittellinie herum fluktuierend weiter abwärts läuft.Auch wurde ein Test der oberen Trendkanallinie in Betracht gezogen.Hier sollte es sich dann entscheiden: Kommt es zu einem Trendbruch odernicht. Schlussendlich wurde auch die Möglichkeit einerSeitwärtsbewegung genannt (siehe Chart unten: blaues Rechteck),welche die Kurse ebenfalls zur oberen Trendlinie führenwürde, allerdings seitwärts.
Insgesamt zeichnete man alsofür den umgekehrten Chart ein überwiegend bearishes Bild. Auf den realen Dow Jones übertragen, waren die meistenAnalysen damit eher bullish! Und das ist doch erstaunlich, weil diemeisten Chartanalysen des Dows zurzeit eher bearish ausfallen.
Mögliche Bodenformation (im realen Chart: Top-Formation)
Allerdings wurde bei der Analyse des umgekehrten Charts auch die Möglichkeit einer inversen Schulter-Kopf-Schulter-Formation (SKS) erkannt.
Dazu müsste der Kurs in diesemChart allerdings zuvor noch eine weitere Abwärtsbewegungeinleiten, um eine rechte Schulter auszubilden (siehe im Chartdie blaue Prognoselinie). Auf den realen Dow Jones übertragenheißt das, die Kurse müssten noch deutlich ansteigen, bevorsich diese Umkehrformation ausbilden kann. Diese mögliche SKS wirdvon einigen Analysten auch bei der Analyse des normalen Chartsbeschrieben und entspricht in etwa der bearishen Analyse zum erstenChart.
Fazit
Ohne das Wissen, um welchen Chart essich handelt, wurde der auf dem Kopf stehende Dow Jones übertragengesehen deutlich bullisher interpretiert, als der reale Chart. Manerkennt daran, wie sehr die eigenen Erfahrungen und Erwartungen dieChartanalysen prägen. Sie sollten also immer bemüht sein,ihre eigene, selektive Wahrnehmung zu hinterfragen. Ein hilfreichesMittel ist, sich Charts einfach einmal auf dem Kopf stehend anzusehen.Oft kommt es hier zu einem Aha-Effekt.
Für den Dow Jones bedeutendiese Analysen: Generell ist aus charttechnischer Sicht das Bilddeutlich bullisher, als allgemein beschrieben. Allerdings sollten dieletzten Tiefs nicht mehr unterschritten werden. Geschieht das,wäre die untere Aufwärtstrendlinie die letzte Bastion derBullen, deren Bruch auf eine tiefe weltwirtschaftliche Rezessionhinweisen würde. Hoffen wir also, dass sich der bullisheEindruck durchsetzen wird.