Antibiotika verdrängten von 1940 an Substanzen wie Kolloidales Silber und die Madentherapie. Erst zunehmend beobachtete Resistenzen und die Misserfolge beim Behandeln chronischer Wunden führte vor rund zwanzig Jahren zu einem Wiedererinnern an die gute alte Made.
von Hans-Jörg Müllenmeister
Auf der Ekelskala bewegen sich Maden der Schmeißfliegengattungen Lucilia und Calliphora an vorderster Front. Bei chronischen Geschwüren und komplizierten Wunden sind sie aber die Helfer in aller höchster Not. Vor allem Diabetiker, aber auch Patienten mit Brand- und Operationswunden profitieren von den reinigenden Kräften der wuselnden Geister.
Maden reinigen Wunden schnell, gezielt und gründlich, beschleunigen aber nicht ihre Heilung. Sogar Krankenhauskeime wie multiresistente Staphylokokken beseitigen sie, die gegen alle Antibiotika unempfindlich sind. Dabei gehen Maden mit ihren sensiblen Freßwerkzeugen gezielter vor als ein geschickter Mikrochirurg, denn sie unterscheiden beim Fressen gesundes Gewebe - das sie nicht wegraspeln - von schwärendem oder nekrotischem Gewebe.
Nützliche Maden haben eine lange Geschichte
Wie so oft, nutzten Naturvölker intuitiv die Möglichkeiten der Natur:
schon die Aborigines und Mayas setzten Maden zur Wundreinigung ein. Die ersten europäischen Berichte über die heilsame Wirkung stammen aus den Napoleonischen Kriegen. Im amerikanischen Bürgerkrieg 1861 bis 1865 beließen Militärärzte aus Erfahrung Maden bewusst in den Wunden. Auch in den Weltkriegen zeigte sich, dass besonders beim Austreten von inneren Organen nach Bauchschüssen diejenigen Soldaten im Feld überlebten, deren Wunden von Schmeissfliegenlarven befallen waren. Jahrzehnte vergingen, bis ein amerikanischer Orthopäde und Chirurg über die guten Erfolge mit der Madentherapie bei Knochenentzündungen, also Osteomyelitis berichtete, und er machte erneut die kleinen Kollegen ohne Kittel und Doktortitel populär.
Wiederentdeckte Madentherapie
Antibiotika verdrängten von 1940 an Substanzen wie Kolloidales Silber und die Madentherapie. Erst zunehmend beobachtete Resistenzen und die Misserfolge beim Behandeln chronischer Wunden führte vor rund zwanzig Jahren zu einem Wiedererinnern an die gute alte Made.
1996 fand ein Kongress zum Thema Wundbehandlung statt. Erneut rückten Maden als Wundreiniger ins Blickfeld der Ärzte. Das Vorurteil, Maden seien schmutzig, weil sie von faulem Gewebe leben, revidierte man gründlich. Sie nützen dem Kranken weitaus mehr als das sie ihm schaden, denn sie reinigen mit ihren Sekreten die Wunde. Besonders Wunden an Beinen von Rauchern und Diabetikern, anhaltende Oberschenkelknochen-Entzündungen und entzündliche Bauchwunden lassen sich durch Maden erfolgreich therapieren.
Maden im Biosack
Heute züchtet man zur Wundbehandlung die Tierchen speziell in keimfreien Labors und näht die Larven in Säckchen ein, den sogenannten Biobags. Die Maden können gerade noch ihren Kopf zum Fressen durchstecken und die keimtötende Substanz abgeben, aber nicht beliebig in der Wunde herumkriechen.
Die Madentherapie dient dem Reinigen einer Wunde von abgestorbenem Gewebe - dem Debridement, also auch Wundsekreten und allen Auflagerungen wie Schorf, einschließlich Bakterien, die den Heilungsprozess behindern. Es gibt Wunden, etwa zwischen den Zehen bei Diabetikern, wo man schlecht die Grenze zum gesunden Gewebe ausmachen kann. Hier sind Maden ebenfalls hilfreich. Als Nekrophagen sind sie auf totes Gewebe spezialisiert.
Entweder bringt man fünf bis acht „Freiläufer“ pro Zentimeter direkt auf die Wunde oder man legt sie eben verpackt in besagte Beutelchen auf die Wunde. Die Durchlässigkeit dieser Biobags ermöglicht es einerseits, dass die Maden Sekrete in die Wunde abgeben können; sie gestatten andererseits, dass die Wundflüssigkeit zur Ernährung der Maden zurück in den Beutel führt.
Vielseitige Wundanwendungen
Maden werden inzwischen bei allen gängigen Arten von chronischen Wunden genutzt. Das sind neben diabetischen Ulcera, vor allem solche Geschwüre, die auf chronische Stauungen der Venen oder auf Durchblutungsstörungen der Arterien zurückgehen. Davon sind ja meist Raucher betroffen. Schließlich säubern Maden auch Druckgeschwüre, sogenannte Dekubiti, etwa bei bettlägerigen Patienten. Sie können auch Brandwunden säubern und bei infizierten Operationswunden hilfreich sein. Ihr Speichel enthält nämlich zahlreiche desinfizierende Substanzen, die Bakterien den Garaus machen. Gerade Keime auf chronischen Wunden sind oft besonders aggressiv. Diese sind häufig schlecht durchblutet, deshalb führen Antibiotika-Substanzen über den Blutkreislauf erst gar nicht dahin, wo man sie benötigt. Ein lokales Auftragen von Antibiotika auf die Wunde ist in diesen Fällen meist ungünstig, weil sich besonders rasch Resistenzen bilden.
Freie Larven reinigen Wunden durchschnittlich in zwei Wochen, jene in Beuteln in 28 Tagen. Die Wunden unter sogenannten Hydrogele benötigten im Durchschnitt 72 Tage. Das Debridement, also ein Einschnitt in ein Gewebe, stellt immer nur den ersten Schritt beim mehrstufigen Behandeln einer Wunde dar. Zur Heilung sind ganz unterschiedliche weitere Maßnahmen erforderlich. Etwa ein Gefäßbypass im Unterschenkel, weil sonst aufgrund mangelnder Durchblutung die Wunde nicht abheilen kann - selbst wenn sie gesäubert ist. Patienten können daher von der Madentherapie eine besonders schnelle Reinigung erwarten, aber nicht zwangsläufig ein rascheres Abheilen.
Madentherapie in der Klinik-Praxis
Die Madentherapie ist offiziell nicht zugelassen; der Arzt kann sie allerdings nach dem Arzneimittelrecht dennoch verordnen. Eine Behandlung kostet etwa 80 bis 150 Euro. Die ambulante Behandlung mit Maden wird in aller Regel nicht erstattet. Das ist der Grund, warum niedergelassene Ärzte „madenfrei“ arbeiten, obwohl sie die meisten Patienten mit chronischen Wunden betreuen. Daher verbleibt wohl auf absehbare Zeit das medizinische Biotop der wuselnden, winzigen Biochirurgen in der Klinik.
Ansprechpartner zur Madentherapie sind: Die Unfallchirurgie des Krankenhauses Bietigheim bei Stuttgart, aber auch jede größere Apotheke kann weiterhelfen.