Nach Ansicht des früheren Kulturstaatsministers Julian Nida-Rümelin kann Deutschland einen sogenannten Shutdown nicht lange durchhalten.
"Ich glaube auch nicht, dass die Strategie richtig wäre, zwölf oder gar 18 Monate lang alles runter zu fahren und dadurch weitere Infektionen zu vermeiden", sagte der Philosoph und Ethiker dem "Mannheimer Morgen" (Samstagausgabe). Dadurch würde die ökonomische Basis für den sozialen Zusammenhalt und die kulturellen Grundlagen der Demokratie zerstört.
"Wenn die Gesellschaft am Ende nicht mehr vital genug ist, dann ist keine Krise zu bewältigen", so der ehemalige Kulturstaatsminister weiter. Deutschland müsse sich "sehr gründlich Gedanken machen, wie es langfristig weitergeht". Der Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München sieht derzeit durch die Corona-Krise zwar eher eine Stärkung der Demokratie, vor dem Hintergrund einer drohenden Weltwirtschaftskrise zeigte er sich aber auch besorgt.
"Wir können die Schulen nicht bis Ende des Jahres schließen. Wir können nicht zulassen, dass die Geschäfte geschlossen bleiben und die Arbeitslosigkeit ins Uferlose steigt", sagte Nida-Rümelin. Man habe in Deutschland aufgrund einer soliden Politik seit vielen Jahren die finanziellen Mittel, gegenzusteuern, aber diese Mittel "sind nicht unbegrenzt".
Deutschland dürfe nun nicht die Gesamtstaatsverschuldung "in schwindelnde Höhe treiben, wie das in Italien der Fall ist", denn dann würde seiner Ansicht nach "der Stabilitätsanker in Europa verlorengehen", so der Philosoph weiter. Mann müsse jetzt in erster Linie die Gefährdeten schützen. Das Risiko sei extrem ungleich verteilt.
"Deswegen stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen man möglichst bald das ökonomische, soziale und kulturelle Leben wieder hochfahren kann", so der frühere Kulturstaatsminister. Er glaube zwar schon, dass es ein kollektives Interesse am Shutdown gebe und insofern die staatliche Gewalt vom Volk ausgehe. Insofern rechtfertige das auch "tiefe Eingriffe auf Zeit".
Dennoch wies der Ethiker auf andere Möglichkeiten zur Eindämmung des Virus hin und verwies auf Südkorea. "Da würde ich mich sogar mit Datenschützern streiten, denn das südkoreanische System zeigt, dass man dort zum Beispiel mit der Smartphone-Ortung einiges erreichen konnte.
Die lösen das mit Tracking und wissen: Wer war wann mit wem zusammen und sie sammeln unter freiwilliger Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger Gesundheitsdaten, die sie benötigen, um die Krise effektiver kontrollieren zu können", sagte Nida-Rümelin dem "Mannheimer Morgen".
Auch in Deutschland solle das erwogen werden. "Bisher geben wir diese Informationen Google, Facebook und Co, in dieser Ausnahmesituation sollten wir bereit sein, dem Staat ein gewisses Vertrauen entgegen zu bringen", so der ehemalige Kulturstaatsminister. Es gebe in Südkorea weder eine allgemeine Ausgangssperre noch ein Versammlungsverbot.
"Vielleicht können wir ja von Südkorea, einer freiheitlichen Demokratie im Gegensatz zu Singapur oder China, etwas für die Krisenbewältigung in Deutschland lernen", sagte Nida-Rümelin.
Foto: Gesperrter Spielplatz, über dts Nachrichtenagentur