In ihrem Kern liegt die Ursache der Krise beim Rechtsinstitut derHaftungsbeschränkung, also dem Umstand, dass Gläubiger vonKapitalgesellschaften nicht auf das persönliche Eigentum der Inhaberdieser Gesellschaften zurückgreifen können.
Bei hoher wirtschaftlicher Unsicherheit kann die Haftungsbeschränkungallerdings zum Problem werden, weil sie den Wagemut zum Glücksrittertumübersteigert. Wie immer geht es um eine Abwägung zwischen Vor- undNachteilen und um das richtige Maß der Dinge. Das Problem desGlücksrittertums ist besonders gravierend, wenn dieKapitalgesellschaften selbst über das Ausmaß ihrer Haftung bestimmendürfen, indem sie ihr Eigenkapital im Verhältnis zu ihremGeschäftsvolumen nach eigenem Gutdünken wählen. Sie arbeiten dann inder Tendenz mit zu wenig Eigenkapital und schütten zu hoheGewinnanteile an die Aktionäre aus. Die fünf großenUS-Investmentbanken, von denen bisher drei der Krise zum Opfer fielen,haben hemmungslos auf diese Strategie gesetzt, frei nach der Devise,dass man nicht verlieren kann, was man nicht hat. Die Risiken schufenAnreize, das Eigenkapital zu minimieren, und die geringe Höhe desEigenkapitals schuf Anreize, besonders hohe Risiken zu suchen. ImWechselspiel zwischen diesen Anreizen liegt die eigentliche Ursache derKrise - und damit auch der Ansatzpunkt für Reformen.
Das Privileg der Haftungsbeschränkung ist nicht im Markt entstanden,sondern vom Gesetzgeber gewährt worden, und weil das so ist, muss derGesetzgeber auch definieren, was er wirklich damit meint. Er kann dieDefinition nicht den Begünstigten selbst überlassen. Wie man gesehenhat, definieren sie die Beschränkung dann so, dass sie fast keinerleiHaftung mehr übernehmen. Die US-Investmentbanken, die deramerikanischen Bankenaufsicht nicht unterworfen waren, haben ihrGeschäft mit Kernkapitalquoten in der Gegend von vier Prozentbetrieben, was viel weniger als die Quote ist, mit der privateGeschäftsbanken operieren. Zudem haben sie sehr komplexeKreditoperationen außerhalb ihrer Bilanzen durchgeführt und derKontrolle ihrer Anleger entzogen.
Man mag entgegenhalten, dass das Glücksrittertum durch dieRatingagenturen vermieden werde. Die dahinter stehende Idee:Ratingagenturen erteilen bei übermäßigen Risiken schlechte Bewertungen,sodass die Banken gezwungen sind, für die selbst aufgenommenen Gelderhöhere Zinsen zu zahlen. Insofern, so das Argument, helfe der Marktsich selber und erzeuge das richtige Maß an Vorsicht. Das kläglicheVersagen der Ratingagenturen bei der jetzigen Krise zeigt aber, wieillusorisch dieses Argument ist. Die Agenturen haben nicht rechtzeitiggewarnt und ihre Triple-A-Bewertungen erst dann zurückgezogen, als esgar nicht mehr anders ging. Da sie selbst ihr Einkommen von denbewerteten Finanzinstitutionen erhalten und auf deren Gunst angewiesensind, konnten sie es sich nicht leisten, die Wahrheit zu sagen. Fastbankrotte Großkunden der Agenturen in Amerika wurden schön geschrieben,während vergleichsweise robuste, aber kleinere Kunden in Europaabgewertet wurden. Auch die Kreditpakete mit Ansprüchen gegenamerikanische Hauseigentümer, die schon lange im Risiko standen, wurdenauf diese Weise den deutschen Landesbanken weit über Wert angedient.
Der beste Beweis dafür, dass die Ratingagenturen und andereInformationskanäle nicht funktionieren und außerstande sind, die Käufervon Bankschuldverschreibungen und Kreditpaketen über die wahrenVerhältnisse aufzuklären, liegt in dem Umstand, dass Eigenkapital aufdem Kapitalmarkt stets viel teurer ist als Fremdkapital. Wären dieKäufer von Bankschuldverschreibungen über dieRückzahlungswahrscheinlichkeitenkorrekt informiert, würden sie risikogerechte Zuschläge auf die Zinsenoder Abschläge auf die Preise dieser Schuldverschreibungen verlangen,die das Fremdkapital für die Banken genauso teuer wie das Eigenkapitelmachen. Die Finanztheorie bezeichnet diese Erkenntnis nach ihrenUrhebern als Modigliani-Miller-Theorem. Davon kann aber in der Praxisnicht die Rede sein. Jeder nutzt die Hebelwirkungen billigenFremdkapitals bis zu dem Limit, das die Ratingagenturen setzen, um demEigenkapital höhere Erträge zu verschaffen. Wer es nicht tut und durchhöhere Kapitalunterlegung die Rückzahlungswahrscheinlichkeit für dieverkauften Finanzprodukte steigert, wird dafür vom Kapitalmarkt nichtbelohnt.
Bankschuldverschreibungen und verbriefte Risikopakete sind mit einerKaskade verschachtelter Rechtsansprüche verbunden, an deren Endeirgendwo ein reales Investitionsprojekt steht. Es sind Produkte, beideren Bewertung selbst Fachleute überfordert sind. Fast nie können dieKäufer die tatsächliche Rückzahlungswahrscheinlichkeit richtigeinschätzen. Nur die Verkäufer, die die verbrieften Paketezusammenstellen, wissen in etwa, was sie verkaufen. Die Bankproduktesind in der Sprache der Ökonomen Lemon-Güter, also Güter, derenQualität von den Käufern beim Kaufakt nur unvollständig beobachtetwerden kann und die deshalb zumeist in minderwertiger Qualitätangeboten werden. Die Anbieter nutzen die mangelnde Information derKäufer aus, indem sie ihre Kosten zulasten der Qualität vermindern,weil sie wissen, dass die Käufer sie dafür nicht durch Preisabschlägeoder Kaufzurückhaltung bestrafen können. Die Qualität sackt ab und istniedriger als jene Qualität, die sich auf einem Markt mit informiertenKäufern einstellen würde. Um Lemon-Märkte zu verhindern, haben diemeisten Länder zum Beispiel ein Lebensmittelrecht, das Untergrenzen fürdie Qualität der Lebensmittel in Form von Höchstgrenzen fürgesundheitsgefährliche Inhaltsstoffe vorlegt. Bei Pharmazeutika wirddie Mindestqualität sogar durch Zulassungsverfahren gesichert. Auch dieKredite, die in den USA an die Hausbauer vergeben werden und am Endeder Anspruchskaskade stehen, sind Lemon-Produkte. Einerseits sind inden USA viel höhere Verschuldungsquoten üblich als in Deutschland.Andererseits haben die Banken vielfach keine Durchgriffshaftung auf dasPrivatvermögen oder Arbeitseinkommen der Hausbesitzer wie inDeutschland. Wenn es dem Hausbesitzer nicht mehr passt, kann er denSchlüssel seines Hauses bei der Bank abgeben und ist seineRückzahlungsverpflichtungen los. Im Bewusstsein dieserHaftungsbeschränkung haben sich in den USA die Hausbesitzer viel zuwaghalsig an Immobilienprojekte herangetraut, die sie nur im Fall immerweiter wachsender Hauspreise schultern konnten. Die Immobilienblase,die vor anderthalb Jahren zu platzen begann und die Bankenkrise nachsich zog, ist auf diese Weise entstanden.
Die Amerikaner haben sich über das letzte Vierteljahrhundert, seit derZeit von Präsident Reagan, zunehmend im Ausland verschuldet und sichein schönes Leben gemacht. Sie ließen ihre Investitionen durch das ausdem Ausland hereinströmende Kapital finanzieren und anstatt zu sparen,verließen sie sich darauf, dass ihr Immobilienvermögen immer wertvollerwurde. Das Defizit der Leistungsbilanz, also der Überschuss derimportierten Waren und Leistungen über die Exporte, erreichte in derSpitze einen Wert von 5,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Es wurdemit immer raffinierter konstruierten Anlageobjekten finanziert, die mitdem Stempel der Ratingagenturen zertifiziert waren, bis auch der letzteInvestmentmanager der deutschen Landesbanken merkte, welcher Schrotthier verkauft wurde. Das Verwirrspiel ist jetzt zu Ende. Dieschmerzhafte Erfahrung, dass die teuren Value-at-Risk-Modelle derInvestmentbanker genauso wenig taugen wie die Ratings der Agenturenblieb keiner europäischen Bank erspart.
Die Politik muss sich nun endlich der Aufgabe stellen, die gesetzlicheHaftungsbeschränkung der Kapitalgesellschaft zu definieren, indem siestrenge Mindestanforderungen für Eigenkapitalunterlegungen bei denverschiedenen Geschäftstypen der Banken festlegt - sowohl in Amerikaals auch in Europa. Strengere Vorschriften sind kein Nachteil für dieWirtschaft, denn das scheinbar so viel teurere Eigenkapital, dessenVerwendung man damit erzwingt, ist volkswirtschaftlich nicht teurer alsFremdkapital, wie die Lasten, die nun auf den amerikanischen Staatzukommen, beweisen. Es kann auf diese Weise auch keine Knappheit anFinanzierungsmitteln entstehen, denn die Ersparnis der Welt reichtunabhängig von solchen Vorschriften gerade aus, die Investitionen zufinanzieren. Im Einzelnen sollte Folgendes geschehen:
1. Die USA müssen sich endlich an internationalen Vereinbarungen zurHarmonisierung der Bankenaufsicht beteiligen. Diese Vereinbarungenkönnen sich am Basel-II-System orientieren, das staatlich zukontrollieren ist.
2. Europa braucht ein gemeinsames System der Finanzaufsicht. Dabei mussjeder Staat für die Verluste seiner eigenen Banken aufkommen.
3. Investmentbanken, Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaftenmüssen den gleichen Regeln unterworfen werden wie die Geschäftsbanken.
4. Haftungsbeschränkungen bei Hypotheken und ähnlichen Immobilienkrediten sind aufzuheben.
5. Conduits und anderen Konstruktionen zur Auslagerung desInvestmentbanking-Geschäfts aus den Bankbilanzen sollten so beschränktwerden, dass die eingegangenen Risiken in den Bankbilanzen transparentwerden.
Wer dem den Ruf nach freien Märkten entgegensetzt, ohne die dieMarktwirtschaft nicht bestehen könne, verwechselt Marktwirtschaft mitAnarchie. Die Marktwirtschaft kann nur funktionieren, wenn sieVerkehrsregeln unterworfen ist. Das bürgerliche Gesetzbuch ist vollerRegeln, die private Verträge beschränken. Nur eine Teilmenge derVerträge, die eine unkontrollierte Marktwirtschaft entwickeln würde,ist erlaubt, und genau deshalb funktioniert das System. Europa und dieWelt brauchen strengere Regeln für den Finanzverkehr. Solche Regelnbedeuten keinen Systembruch. Sie sind für das Funktionieren derFinanzkapitalmärkte unerlässlich.
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft Präsident des ifo Instituts