Vielleicht werden wir in Deutschland in eine Rezession geraten – vielleicht wird es sogar eine größere Krise geben. Aber selbst dann werden wir noch weit entfernt von den Lebensumständen des Großteils der Bevölkerung anderer Länder sein. Wir haben viel erreicht, und sicher ist die Angst groß, das alles wieder zu verlieren. Aber wir haben die Relationen verloren.
von Jochen Steffens
Ich bin an diesem Wochenende aus Südamerika zurückgekommen. Dort habe ich sowohl Argentinien als auch Uruguay bereist und bin durch viele, zum Teil auch abgelegene, Gegenden gefahren – wohlhabende, aber auch sehr arme. Dank meiner perfekt spanisch sprechenden Begleitung habe ich viele Kontakte mit Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten gehabt. Normalerweise sagt man, dass man einen Kulturschock bekommt, wenn man aus dem reichen Westen in diese Länder fährt. Irgendwie war es bei mir genau anders herum. Ich erlebte den Kulturschock, als ich wieder zurück nach Deutschland kam.
Unglaubliche Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft
Mir ist zunächst diese unglaubliche Freundlichkeit der Menschen in Südamerika aufgefallen. Egal wen man fragte, jeder war im höchsten Maße bemüht zu helfen. Und es schien nahezu unerheblich, wie viel Zeit diese Hilfe in Anspruch genommen hat. Die Menschen waren interessiert, hilfsbereit und nahmen sich Zeit dafür. Zeit, die hier in Europa fast niemand mehr hat.
Welcher Bevölkerung geht es besser?
Aber selbst die Stimmung dort ist eine ganz andere. Auch wenn in den dortigen Medien von der Krise in Europa und den USA berichtet wird, so geht dies an diesen Menschen doch weitgehend vorbei. Man kann natürlich sagen, es sei ja nicht ihre Krise. Aber wenn die westlichen Industriestaaten in Schwierigkeiten gerät, werden es diese Länder auch zu spüren bekommen.
Nein, es ist wohl eher eine ganz andere Art, mit Krisen umzugehen. Ich hatte den Eindruck, dass dort einfach die hier übliche Aufgeregtheit fehlt. Man lässt die Dinge auf sich zukommen. Sollte es zu einer Krise kommen, wird man sich auch damit arrangieren – das Leben geht halt weiter. Und bis dahin genießt man noch ein wenig die Sonne oder das Leben oder was sonst noch so auf einen zukommt.
Der eigentliche Kulturschock
Den eigentlichen Kulturschock hatte ich daher, wie gesagt, als ich nach Deutschland zurückgekommen bin. Mir wurde dann erst bewusst, wie negativ die meisten hier mittlerweile gestimmt sind.
Viele reden von Krisen, sind schlecht gelaunt, hektisch, mürrisch und im Vergleich eher unfreundlich. Den Gesichtern fehlt das Strahlen, die Freundlichkeit – auch fehlt dieser entspannt fröhliche Ausdruck.
Ich frage mich seitdem ernsthaft, welcher Bevölkerung es eigentlich wirklich besser geht?
Das reiche Land
Dabei drängte sich mir natürlich auch der unglaubliche Reichtum hier in Deutschland ins Bewusstsein - die sauberen Straßen, die ordentlichen Häuser, die unglaublich vielen, frisch gewaschenen, glänzend neuwertigen Autos, die jede Straße säumen. Aber auch die Menschen wirken sauberer, oft sehr schick und gut gekleidet – sie leben in großen Wohnungen und ausgefallenen Häusern, mit sauberen, fließendem Wasser, teuren Hi-Fi-Anlagen und Fernsehern, sowie gut ausgestatteten Küchen und beindruckenden Bädern.
Krise 3.0
Vielleicht werden wir in Deutschland in eine Rezession geraten – vielleicht wird es sogar eine größere Krise geben. Aber selbst dann werden wir noch weit entfernt von den Lebensumständen des Großteils der Bevölkerung anderer Länder sein. Wir haben viel erreicht, und sicher ist die Angst groß, das alles wieder zu verlieren. Aber wir haben die Relationen verloren. Wir haben den Blick dafür verloren, welch unglaubliches Glück die meisten von uns hatten, hier in diesem Land geboren worden zu sein.
Vielleicht sollten wir neben all der Panik, den Sorgen und den Krisenstimmungen, die uns alle zurzeit anfallen, hin und wieder auch den Blick auf das Wesentliche lenken – nämlich die Tatsache, dass die allermeisten Menschen in Deutschland im Vergleich zu den allermeisten anderen Menschen dieser Erde, in einem Paradies leben – ein Paradies, dessen Bewohner allerdings die Freude verloren haben…