Nach dem größten Bestseller der letzten Jahre "Unterwerfung" (handelt vom Zusammenprall der Kulturen) nun ein neuer Roman von Michel Houellebecq: "SEROTONIN". Prädikat: Fantastische Schreibe, unbedingt lesenswert. Kein Schriftsteller (Jahrgang 1956) reflektiert seine Generation besser.
Buchbeschreibung
Als der 46-jährige Protagonist von SEROTONIN, dem neuen Roman von Michel Houellebecq, Bilanz zieht, beschließt er, sich aus seinem Leben zu verabschieden – eine Entscheidung, an der auch das revolutionäre neue Antidepressivum Captorix nichts zu ändern vermag, das ihn in erster Linie seine Libido kostet. Alles löst er auf: Beziehung, Arbeitsverhältnis, Wohnung. Wann hat diese Gegenwart begonnen?
von Timotheus Alexander
Zugegeben, ich bin begeistert! Ich habe dieses Buch so schnell gelesen wie kein anderes ! SEROTONIN von Michel Houellebecq las ich wie im Rausch. Sein Titel ist Programm. Es schüttet bei mir tatsächlich SEROTONIN aus!
Ist das der Werther unserer Zeit? Ist das das Buch für den abendländischen, mittelständischen Mann in mittleren Jahren, der eine Sinnkrise hat? Mit dem Selbstempfinden eines Erschöpften, in verflachtem Wohlstandsmilieu, ohne Grund zu leben und ohne Grund zu sterben?
Houellebecq beschreibt für mich im leichtfüssigsten Ton, den er je angeschlagen hat, geradezu virtuos das Projekt eines gelungenen vorsätzlichen Verschwindens. Für die Umgestaltung seines Lebens braucht sein Romanheld nur einen Tag, die Suche nach einem Raucherhotel in Paris allerdings nimmt dann doch drei Tage in Anspruch, denn Florent-Claude möchte nicht als Obdachloser mit 700.000 Euro auf dem Konto in der Welt hausen, auch wenn er diese Vorstellung durchaus sehr amüsant findet.
Ich lese diesen Roman so, als hörte ich einem Autor zu, der sich über all das, was er da erzählt köstlich amüsiert. Denn er erhebt sich über seinen Stoff, so wie er sich über seine Leser erhebt. An einer Stelle spricht er explizit seine „Unterschichtsleser“ an (Houellebecqs Begriff), denen er erklären zu müssen glaubt, was eine Master-Suite sei. In diese hat sich diese sexsüchtige Japanerin eingenistet, die 20 Jahre jünger ist als sein Held von Ende 40.
Diese verlässt er, auch weil er in ihrer Master-Suite, die eigentlich seine ist (aber der abendländische Hetero räumt die Komfortzonen für die fremdländische Konkubine und begnügt sich mit dem Gästezimmer im Eigenheim) Pornos von Gang-Bangs findet und was ihn tatsächlich abstösst: Pornos, in denen seine kleine Japanerin mit Hunden vögelt.
Sein Eigenheim wurde zur sicheren Hölle, in die er vor den „gefährlichen Schichten“ entkommen konnte, nun aber sucht er auch aus dieser das Weite. Das ist nach dem ersten Viertel des Romans die Enge eines mit Minibar und Begrüßungstabletts zugestellten Mittelklasse-Hotel Zimmers .
Ach, das ist uns mittelständischen Lesern, die wir in solchen Ekel-Hotels auch schon von Arbeitgebern untergebracht wurden, alles so vertraut! Das liest sich mitreissend, denn der Schreibdrang Houellebecqs resultiert ganz offensichtlich aus großer Empathie.
Noch nie empfand ich bei ihm ein derartiges Mitteilungsbedürfnis, das fast ins Schwatzhafte reicht, haufenweise Erklärungen, ja fast Rechtfertigungen liefert er. Da ringt einer um Verständnis und will gehört werden! Und er wird gehört! Ich lese das alles sehr sehr gerne, auch wenn gleich zum Auftakt homophobe Äußerungen bei mir auf Widerstand stoßen, wie ein Potpourri an Vorurteilen gegen Holländer, Engländer, Deutsche, eigentlich alle, die nicht, ja was eigentlich? Weltbürger, Provokateure oder Houellebecq sind?
Die eigentliche Herausforderung dieses Romans formuliert Houellebecq selbst: „Schwanz, Dasein und Seele soll gerettet werden!“ - Ob das gelingt, will ich nicht verraten ! Sicher aber ist, dass das Glücksempfinden etwas nachlässt beim Lesen, denn die Kraft , mit der im ersten Drittel des Romans erzählt wird , lässt leider nach bei all den Rückblicken des Florent-Claude auf unendlich viele Blow Jobs und Frauen, deren Namen er teilweise nicht mehr erinnern kann.
Die Verschmelzung von Romantik und Pornografie, von der die Rede ist im Roman, scheint doch unmöglich, auch wenn die Verbindung von Eurokratie und Porno beinahe aufgedeckt wird in diesem zurecht gehypten Buch von einem Autor, der zweifellos ein gnadenloser Seismograf unserer Zeit ist.