Als kommunitaristisch geprägte Gesellschaft hält China ganz andere Werte hoch als der individualistische Westen, allen voran die anglo-amerikanischen Gesellschaften. Ohne ein Verständnis dieser oft auch als „asiatisch“ bezeichneten Werte fehlt in der aktuellen Diskussion um Chinas Verhalten im Vorfeld der olympischen Sommerspiele 2008 ein wesentlicher Aspekt der Diskussion. Im Folgenden sollen kurz diese Werte erläutert und dann in Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion gebracht werden.
Mit vier Milliarden Bewohnern wohnen zwei Drittel der Weltbevölkerung in Asien. Angesichts dieser enormen Größe und Heterogenität dieser Länder von so etwas wie „asiatischen“ Werten zu sprechen, ist eigentlich eine unzulässige Generalisierung. Hinzu kommt, dass dieser Begriff politisiert ist und missbräuchlich verwendet wird, um einen künstlichen Gegensatz zwischen „asiaischen Werten“ einerseits und Demokratie sowie Freiheit andererseits zu schaffen. Dies sollte eigentlich ein Warnsignal vor der Verwendung dieses Begriffes sein.
Dennoch lassen sich – zumindest für den südostasiatischen Raum von China über Nord- und Südkorea über Thailand bis zu den Philippinen, Singapur und Japan – einige Gemeinsamkeiten in Bezug auf Kultur und Werte identifizieren.
Folgt man Hofstedes Einteilung von „Kultur“ nach unterschiedlichen Dimensionen, so kann man die südostasiatischen Länder dem Kommunitarismus zuordnen. Kommunitaristische Gesellschaften betonen Pflichten des Einzelnen in Bezug auf die Gruppe. Der Einzelne ordnet also sein eigenes Wohlergehen dem Wohlergehen der Gruppe unter. Einem Einzelnen geht es gut, wenn es der Gruppe gut geht. Etwas zugespitzt: ein Individuum ist nicht nur Teil einer Gruppe, es ist die Gruppe. Dies steht im Gegensatz zum Individualismus, welcher die Freiheit des Einzelnen betont. Die angloamerikanischen Länder werden dieser Ausprägung von Kultur zugeordnet; Deutschland wird zwischen den beiden Extremen Kollektivismus und Individualismus angesiedelt.
Neben dieser kulturellen Zuordnung lassen sich auch mehr oder weniger konkrete Werte identifizieren, welche über die heterogenen Länder Südostasiens hinweg als erstrebenswert erachtet werden. Dazu gehören Fleiß, Disziplin, Respekt vor dem Alter, Wertschätzung von Bildung, Sparsamkeit und Harmonie gepaart mit Angst vor Chaos.
Wendet man sich nun der gegenwärtigen Debatte um China zu, so kritisieren die Proteste der Bewohner Tibets sowie die Demonstrationen im Ausland die chinesische Regierungspolitik. Nach kommunitaristischer Auffassung werden aber nicht einzelne (die Regierenden, die Politiker) kritisiert, sondern die ganze Gruppe, ja das ganze Land – und auch somit jeder Einzelne. Gleichzeitig nimmt diese Kritik durch Demonstrationen und Proteste eine Form an, die in direktem Widerspruch zum Wert des Strebens nach Harmonie steht: Wird demonstriert und protestiert, so sehen wir „Westler“ diesen Protest als berechtigte (Meinungs-)Äußerung an.
Ein Individuum mit kommunitaristischen Werten dürfte dies ganz anders sehen: hier stellt jemand sein eigenes Wohl über das Wohl der Gruppe; hier ist jemand eben nicht bereit, sich für das Wohlergehen aller unterzuordnen; hier diszipliniert sich jemand eben nicht, wie es eigentlich von jedem erwartet werden könnte. Hier attackiert jemand die Harmonie der Gruppe, der Gesellschaft, ja des ganzen Landes. Protest statt Disziplin, Chaos statt Harmonie.
Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, Kommunitarismus und asiatische Werte als Rechtfertigung für hartes Durchgreifen gegenüber jeder Form von Protest zu interpretieren. Das Wissen um diese Kultur- und Werteform als vereinfachte Extremausprägung einer von vielen Dimensionen kann zunächst einmal als unterster Baustein der Verteidigung von Menschenrechten dienen.