Vorbemerkung:
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsprach die Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland noch einer klassischen Pyramidenformmit starken jungen Jahrgängen. Im Jahr 1910 betrug das mittlere Alterder Bevölkerung 23,1 Jahre. 50 Jahre später haben die beiden Weltkriegedeutliche Spuren in der Altersstruktur hinterlassen und die Bevölkerungwar im Durchschnitt zehn Jahre älter.
Überblicken wir die Geschichte der deutschen Rentenversicherung inden letzten fünfzig Jahren, so sehen wir eine ganze Reihe gebrochenerVersprechen, falscher Prognosen, systematischer Verschleierungen unddie Verschiebung von Problemen auf die Zukunft. Diese Zukunft, die inder Vergangenheit noch sehr fern war, ist heute nahe. Die Geschichtedes umlagefinanzierten Rentensystems ist eine Geschichte vonKorrekturen und Nachbesserungen. Sie ist eine Kette sogenannter„Jahrhundertreformen“, von denen keine länger als wenige Jahre hielt.
Inder Bundesrepublik gibt es ein umlagefinanziertes Rentensystem. Dasheißt: Es gibt keine Kapitaldeckung, keine Reserven, keine langfristigeVorsorge. Die Renten der Alten werden gezahlt durch die Beiträge derJungen, die in Arbeit sind. Das Geld wird in einem Monat eingezahlt undim nächsten Monat wieder ausgezahlt. Die Rentenzahlungen können alsonur so hoch sein, wie die Einzahlungen. Die Einzahlungen kommen von denBeitragszahlern, also von allen, die einersozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Aber nicht nur.Ein Teil, und zwar ein sehr großer Teil, wird auch durch dieSteuerzahler beigetragen. Ein Drittel des Bundeshaushalts werden fürdie Renten aufgewendet. Die Beiträge der Beitragszahler allein reichenalso schon lange nicht mehr.
Vor dem Zweiten Weltkrieg war dieRentenversicherung in Deutschland kapitalgedeckt. Die Altersversorgungder Rentner wurde von der NS-Regierung im Wesentichen in Kriegsanleihenangelegt. Mit der militärischen Niederlage verschwanden damit auch dieRücklagen der Rentenkasse. Somit waren die Rentner nach dem Weltkriegauf eine rudimentäre Grundversorgung angewiesen. Eine Aufbesserung derVersorgung der Renter war also in der Tat geboten. Nun war KanzlerAdenauer für eine besonders großzügige Aufstockung der Renten.Schließlich waren die Rentner eine wichtige Wählergruppe.
Aufder anderen Seite sollte den Steuerzahlern keine zusätzlichen Lastenaufgebürdet werden. Die Lösung war die umlagefinanzierte Rente. DieRenter erhielten eine sehr viel üppigere Rente aus der Kasse derarbeitenden Bevölkerung. Diese sollte wiederum ihre Rente in späterenJahren aus der Kasse der dann arbeitenden Bevölkerung erhalten und soweiter... Dass das System nur so lange funktioniert, wie genugBeitragszahler nachkommen, war von Beghinn an bekannt. Adenauer schobdie Bedenken vieler Experten beiseite, die sagten, um aus diesem Systemwieder herauszukommen, müsse man entweder die junge oder die alteGeneration am Ende betrügen. Kinder, so wird Adenauer zitiert, bekämendie Leute schließlich von alleine. Für Adenauer zahlte sich diesePolitik aus. Bei den Wahlen 1957 erhielt die CDU/CSU zum einzigen Malin ihrer Geschichte eine absolute Mehrheit.
So dachte auch diesozialliberale Koalition, die 1969 an die Regierung kam. Auch siewollte Wahlgeschenke verteilen, und auch ihr bevorzugter Verteilungswegwar die Rentenkasse. Sie wollte die Arbeitnehmer früher in Renteschicken, nun schon mit 63. Das nannte man „flexible Altersgrenze.“Außerdem sollten mehr Menschen als Einzahler in das System aufgenommenund die Renten damit angehoben werden. Da diese Politik populär war,war auch die CDU-Opposition dafür und setzte noch weitere Forderungendurch.
Insgesamt sollten die Nachbesserungen bis 1985 ganze 200Milliarden DM kosten. Finanziert werden sollte es aus den Überschüssender Rentenkasse, die angeblich in derselben Größenordnung zu erwartenwaren. Wie kamen diese Überschüsse zustande? Es gab imArbeitsministerium einen sogenannten Renten-Computer. Dieser wurde mitZahlen gefüttert und spuckte dann seine Prognose aus. Es ist klar, dassdie Zahlen, die der Computer auswarf, nicht besser sein konnten alsdie, die eingegeben wurden. In den ersten Jahren der sozialiberalenRegierung gab es einen Wirtschaftsboom in der BundesrepublikDeutschland. Es herrschte Vollbeschäftigung und die Löhne stiegen umüber sechs Prozent im Jahr. Mit diesen Zahlen fütterte die Regierungden Computer und heraus kamen die traumhaften Überschüsse von 200Milliarden D-Mark, die man dann gemeinsam mit der Opposition fleißigverteilte.
Doch schon bald platzte die Seifenblase. Denn mit derÖlkrise 1973 war es vorbei mit der Vollbeschäftigung und den enormenÜberschüssen. Das führte dazu, dass die Rentenkasse 1975 zum ersten Malvor der Pleite stand. Der Regierung Schmidt gelang es noch, sich überden Wahltermin 1976 zu retten, dann ging die Bombe hoch. Das politischeDessaster ging als „Renten-Betrug“ in die Geschichte ein. Die Regierungmusste ihr Versprechen brechen und die Rentenanpassung reduzieren. Fürdrei Jahre wurde die systemgerechte Rentenanpassung einfach ausgesetzt.Die Rente wurde nur noch pauschal angehoben und nicht mehr an dieLohnentwicklung angeglichen, wie das die Rentensystematik vorsah. Erst1980 kehrte man zum alten Verfahren zurück.
Viele Bürger hattendas Vertrauen in die Rentenkasse verloren. Dies auch deshalb, weilneben den kurz- und mittelfristigen Lasten, die die Politik derRentenkasse aufgebürdet hatte, sich eine langfristige Gefährdungabzeichnete. Seit Mitte der sechziger Jahre gingen die Geburtenratenzurück. 1972 sank die Zahl der Geburten zum ersten Mal unter dieBestandserhaltung. Dies führte bald zu einer sehr breit in den Mediengeführten Diskussion über die Zukunftssicherheit der Rente. Um dasVertrauen in die Rentenkasse wieder herzustellen, startete Helmut KohlsArbeitsminister Norbert Blüm vor den Wahlen 1987 eine Kampagne. ImMittelpunkt stand der Slogan: „Nur eines ist sicher: Die Rente.“ Heutewirkt dieser Satz auf viele Menschen auf unfreiwillige Weise so komischwie der Satz von Erich Honecker: „Die Mauer steht noch hundert Jahre“.Nach den Wahlen brachte Blüm erneut eine Rentenreform auf den Weg. Essollte „eine Jahrhundertreform“ werden. Sie wurde am selben Tagverabschiedet, als die Berliner Mauer fiel.
Und sie sollte 1992in Kraft treten. Bis dahin kamen nun aber neue Belastungen auf dieRentenkasse zu. Durch den Wirtschaftsaufschwung Ende der achtzigerJahre, hatte die Rentenkasse zum ersten Mal seit Mitte der Siebzigerwieder ordenliche Reserven aufbauen können. Siebzig Milliarden DM lagenin den Kassen der Rentenversicherungen. Dies schuf wie schon Anfang dersiebziger Jahre Begehrlichkeiten. Im Zuge der Wiedervereinigung wurdedas Geld dafür ausgegeben, die steigende Arbeitslosigkeit inOstdeutschland zu finanzieren. So wollte die Regierung KohlSteuererhöhungen aus dem Wege gehen, die im Wahljahr 1990 unpopulärwaren.
Und das ging so: Die Beiträge für dieArbeitslosenversicherung wurden erhöht. Aus diesen Beiträgen wurde danndas Arbeitslosengeld gezahlt. Damit die Belastungen den Beitragszahlernicht auffielen, wurde gleichzeitig der Rentenbeitrag um die gleicheGrößenordnung gesenkt. Dies führte zum Abschmelzen der Rentenreserve.Das ist nun sicher der klarste Fall von Zweckentfremdung derVersichertengelder in der Geschichte der Rentenversicherung. DieRentenreform 1992 brachte eine gewisse Entlastung. Der Bundeshaushaltübernahm die wachsenden Lasten der Rentenkasse, die aus der hohenArbeitslosigkeit resultierten. Blüm sprach begeistert davon, dass dasSystem sich von nun an selbst steuern würde. Diese Selbststeuerunghielt nicht lange vor.
1997 konnte selbst Blüm nicht längerabstreiten, dass die Veränderung der Bevölkerungsstruktur sich auf dieRentenkasse erheblich auswirken würde. So erfand er den sogenannten„demographischen Faktor“. Mit diesem sollten die Renten im selben Maßeabschmelzen wie die Alterung der Gesellschaft voranschritt. DiesePolitik war im Wahljahr 1998 unpopulär. Die oppositionelle SPD erkanntedie offene Flanke der Regierung und versprach den demographischenFaktor sofort nach der Wahl wieder abzuschaffen. Die SPD löste ihrVersprechen ein und schaffte ihn nach ihrem Wahlsieg ab. Nach derJahrtausendwende führte sie ihn jedoch in Form des Riester-Faktorswieder ein. Nach der Bundestagswahl 2005 kam als letzter Schritt undVermächtnis des scheidenden Arbeitsministers Müntefering die Rente mit67 hinzu.
Jetzt hat die Regierung Merkel beschlossen, dass die20 Millionen Rentner künftig auch bei sinkenden Löhnen keine Kürzungenihrer Bezüge hinnehmen müssen. Wenn man die Geschichte derRentenpolitik bis zu diesem Punkt verfolgt hat, weiß man, was man vondieser Aussage im Wahljahr zu halten hat.
Gérard Bökenkamp --->ef-online
Freies Ebook: "Deutschland im Demografischen Wandel" --->ZDWA