Karl-Heinz Kurras war für die Stasi viel länger von Interesse als bekannt. Nach SPIEGEL-Informationen gibt es eine bisher verborgene Akte des früheren DDR-Top-Spions, die 1989 kurz nach dem Mauerfall vernichtet werden sollte. Der Vorgang war damals Chefsache, sogar der Vize von Stasi-Minister Erich Mielke war involviert.
Kurz nach dem Mauerfall wurde demnach am 29. November 1989 der Stasi-Oberstleutnant Werner Eiserbeck in Sachen Karl-Heinz Kurras aktiv. Der Führungsoffizier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sorgte sich um das Wohl seines Agenten mit dem Decknamen "Otto Bohl", der früher zu seinen besten Quellen gehört hatte. Eiserbeck ließ sich den brisanten "Sicherungsvorgang" mit dem Decknamen "Vorstoß" kommen, in dem Kurras' Klarname, sein Geburtsdatum und seine Registriernummer bei der Stasi vermerkt waren. Der Offizier ordnete nach dem Vermerk "Wegfall der operativen Gründe!" an: "Der Vorgang ist zu vernichten." Mit diesem Satz sollte die Stasi-Vergangenheit von Kurras getilgt werden.
Eiserbecks Anordnung wurde in den Wirren der Wende-Tage nicht umgesetzt. Der dünne Band, der sechs Seiten umfasst und vom MfS mit einer eigenen Registriernummer versehen wurde, kam in die Archive der Birthler-Behörde, wo er nun aufgetaucht ist und dem SPIEGEL exklusiv vorliegt.
Kurras hatte am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschossen. Kürzlich war durch den Fund einer ersten Stasi-Akte bekannt geworden, dass er DDR-Spion war. Bis vor wenigen Tagen ging man in der Birthler-Behörde davon aus, dass es über ihn nur das eine 17-bändige Dossier gab, das seine Umtriebe bis ins Jahr 1976 dokumentiert.
Die neu aufgetauchte Akte macht nun klar, dass Kurras zeitweise Chefsache bei der Stasi war und sich das MfS wesentlich länger mit ihm befasste als bislang bekannt. Seine zweite Akte betrifft die Jahre 1987 und 1989. Kurras, von dem bislang angenommen wurde, dass er nach der Tötung Ohnesorgs vom MfS abgeschaltet worden war, hat demnach noch Jahre später das Interesse der obersten Stasi-Führung erregt.
Am 11. Dezember 1987 ordnete der Stellvertreter von DDR-Staatssicherheitsminister Mielke, Generalleutnant Gerhard Neiber, höchstpersönlich an, einen sogenannten "Sicherungsvorgang" zu Kurras einzuleiten. Als Begründung vermerke er: "Aus operativen Gründen/Interesse". Warum Kurras für die Stasi-Spitze "operativ" interessant geworden war, ist noch unklar, denn der Befehl stammt aus der Zeit, als der Beamte seinen West-Berliner Polizeidienst schon quittiert hatte.
Im Februar 1989 reaktivierte Generalleutnant Neiber dann außerdem Kurras' alten Führungsoffizier und übergab ihm den brisanten Vorgang. Danach klafft eine zeitliche Lücke bis zu jenem Tag, an dem die Akte vernichtet werden sollte.
Die Entdeckung des Sicherungsvorgangs "Vorstoß" im Stasi-Archiv und die Tatsache, dass Kurras sogar die oberste Spitze des MfS beschäftigte, wirft die Frage auf, wie der Agent so lange unenttarnt bleiben konnte. Trotz des bundesweiten Wirbels, den der Fall seit Ende vergangener Woche auslöste, hatte die Birthler-Behörde die zweite Akte Kurras offenbar bislang übersehen.