"Mischt euch ein" - das ist die Botschaft. Sie sollen Macht und Kompetenzen nicht unreflektiert nach Europa abtreten. Von Ausnahmen abgesehen, dürfen sich fast alle im Hohen Haus angesprochen fühlen. . . Wichtiger als dieser Weckruf-Aspekt ist, dass die Richter eine rote Linie ziehen. Sie definieren, wo die Brüsseler den Vertrag nicht extensiv auf Kosten der Nationalstaaten auslegen dürfen. Sie machen klar, dass das EU-Parlament keine "Leitent-scheidungen" trifft; es ist dazu nicht berufen. Das ist nicht schmeichelhaft, aber die Wahrheit. Im Urteil ist von einem strukturellen "Demoratiedefizit" die Rede. Darum die rote Linie um den Nationalstaat, darum die Verpflichtung an den Bundestag, nichts durchzuwinken und jede Kompetenz klar abzugrenzen. Mehr Europa gibt es nur mit einem Mehr an Demokratie.
Neue Ruhr Zeitung / Neue Rhein Zeitung
Das Karlsruher Urteil zum Lissabon-Vertrag ist keine Bestätigung der amtlichen Integrationspolitik, sondern eine ziemlich überraschende und harte Notbremsung. Die Regierenden haben es sich angewöhnt, EU-Innenpolitik mit gravierenden nationalen Auswirkungen auf der großen Brüsseler Bühne zu zelebrieren. Und sie haben dort einen europäischen Bundestaat antizipiert, den es nicht gibt. Ohne eine Verfassungsänderung nicht geben kann. Die Wiedereinsetzung von Bundestag und Bundesrat in ihre legislativen Rechte, die Prüfung europäischer Rechtsakte auf Kompatibilität mit dem Grundgesetz und das Nein aus Karlsruhe zu einer Gemeinschaft, diesich aus eigenem Recht Kompetenzen gibt, sind epochale Klarstellungen, die zu Unrecht kleingeredet werden."Lissabon" ist nur eine Geschäftsordnung für eine aufgeblähte EU, mit einigen sinnvollen Instrumenten, um das Gebilde steuerbar zu machen. Aber eine europäische Verfassung ist das Vertragswerk nicht. Es bleibt bei "Europa light", was seinen völkerrechtlichen Charakter angeht. Alles andere muss erst noch wachsen. Und zwar mit Zustimmung der Europäer.
Rhein-Neckar-Zeitung
Verfassungsrichter Di Fabio sagte einmal: "Die EU hat die Tendenz, nah am Bundesstaat zu segeln." Diesen Kurs hat das höchste deutsche Gericht mit seinem wegweisenden Ja-aber-Urteil vorerst gestoppt. Die Richter haben zwar Ja zu Europa gesagt, aber Nein zu einem europäischen Superstaat. Sie haben den Bundestag gestärkt und zugleich die Regierungschefs in ihre Grenzen verwiesen. Sie haben den Abgeordneten des Parlamants und den Länderchefs den eigenen Spiegel vorgehalten. Die hatten sich nämlich mit ihrem weitgehend kritiklosen Ja zum EU-Reformvertrag in Bundestag und Bundesrat nahezu selbst entmachtet und mit sich auch gleich ihre Wähler.
Ostsee-Zeitung
Das Bundesverfassungsgericht hält Europa nicht auf, streut aber dennochviel Sand ins Getriebe. Die Karlsruher Richter erlauben zwar, dassDeutschland jetzt den EU-Reformvertrag unterschreiben darf. Sieverlangen jedoch, dass zuvor der Bundestag mehr Kontrollrechte erhält.Die Richter erlauben auch, dass die europäische Integrationmittelfristig weitergeht, aber nur unter strenger Kontrolle desBundesverfassungsgerichts. Schließlich halten die Richter langfristigsogar einen europäischen Bundesstaat für möglich, aber nur unterAufgabe des Grundgesetzes.
taz
Es ist politisch unkorrekt aber verfassungsrechtlich geboten, denLissabon-Vertrag im Lichte von Demokratiegebot und Gewaltenteilung zuwürdigen. Diese Würdigung muss jene Erfahrungen auswerten, die seit demKompetenzzuwachs durch den Maastricht-Vertrag gesammelt wurden. Dieseitdem gewonnenen Erfahrungen im Umgang der Gemeinschaftsorgane mitden ihnen übertragenen und damit irreversibel anvertrautenHoheitsrechten sind trist.
DieKommission hat ihr Initiativmonopol missbraucht. Auf Grund dernormativen Unbestimmtheit ihrer Handlungsfelder und der Inflation ihrerKompetenzen sowie deren Definition anhand von Zielen ist sie zu einerregierungsähnlichen Behörde geworden. Als solche hat sie sich derpolitischen Rechenschaft und der rechtlichen Bindung entwunden.
manager magazin
Das Vorhaben, in der Europäischen Union einen Reformvertrag zubeschließen, der ihr auch mit 27 oder mehr Mitgliedern dieHandlungsfähigkeit sichert, hat schon viele herbe Rückschläge erlitten.Jede Prophezeiung ist deshalb ein Wagnis. Dennoch lässt sich nun miteiniger Zuversicht vorhersagen, dass der vor zwei Jahren von derdeutschen Ratspräsidentschaft ebenso mühsam wie kunstvoll geschnürteVertrag von Lissabon doch noch im Herbst in Kraft treten kann.
FAZ
Schwer wiegen die Versäumnisse der Bundestagsmehrheit gegenüber demWähler sowie die Vernachlässigung der Wählerinteressen. Wieder einmalhaben die Robenträger aus Karlsruhe die Mehrheit des Parlamentserwischt, wie sie zu leichtfertig Macht an Brüssel delegieren wollten.Auch das Gesetz über den Europäischen Haftbefehl mussten Regierung undBundestag neu formulieren. Sie hatten sich schwere Versäumnisse beimSchutz der Bürger vor ungerechtfertigter Auslieferung an andere Staatengeleistet.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Das„Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages unddes Bundesrats in Angelegenheiten der Europäischen Union“, das denLissabon-Vertrag begleitete, setzt genau das aufs Spiel, was es zustärken vorgibt. Die Parlamentarier riskierten sehenden Auges, sichdurch mehrere Klauseln des Lissabon-Vertrages der 27 EU-Staatenausmanövrieren zu lassen.
Focus