Was unsere zinspolitischen Entscheidungen anbelangt, so haben wir stets klar gemacht, dass wir uns nicht im Vorhinein auf einen bestimmten Kurs festlegen. Richtig ist, dass wir den Leitzins aufgrund all der uns zur Verfügung stehenden Informationen derzeit für angemessen halten.
Frage: Laut jüngstem Kommuniqué erwartet der EZB-Rat positive Wachstumsraten auf Quartalsbasis bereits im kommenden Jahr. Bislang hatte EZB-Präsident Jean-Claude Trichet hingegen erst von „Mitte 2010“ gesprochen. Nimmt die Zuversicht zu?
In der Tat gibt es aktuell einige Zeichen der Stabilisierung der wirtschaftlichen Aktivität. Diese fußen nicht mehr nur auf Umfragen, sondern werden zunehmend auch von realwirtschaftlichen Daten bestätigt. Diese deuten in der Tat darauf hin, dass positive Wachstumszahlen bereits früher als bisher erwartet werden können.
Frage: Das klingt doch insgesamt recht optimistisch.
Das gilt es in Perspektive zu rücken. Was wir derzeit sehen, basiert im Wesentlichen auf den Stimulierungsmaßnahmen der Regierungen und dem Wiederauffüllen der Lager. Solange das so ist, können wir nicht mit einer nachhaltigen Rückkehr auf einen höheren Wachstumspfad rechnen.
Frage: Angesichts der geringen Kapazitätsauslastung im Euroraum erwarten viele Ökonomen, dass es noch Jahre dauern wird, bis Inflation wieder eine Gefahr darstellt.
Vorsicht bleibt geboten. Richtig ist, dass internationale Organisationen wie der Internationaler Währungsfonds (IWF) oder die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Produktionslücke für den Euroraum in einer Größenordnung von minus 3% bis minus 6% veranschlagen. Unter solchen Bedingungen ist nicht auszuschließen, dass die Inflationsgefahren für einen langen Zeitraum sehr gering bleiben. Allerdings deuten jüngste Schätzungen auf eine kleinere Produktionslücke. Im Übrigen gilt, dass solche Schätzungen mit großer Unsicherheit behaftet sind.
Frage: Sie sind anscheinend skeptisch.
Ja. Erstens ist unsere Analyse der mittelfristigen Preisrisiken viel breiter angelegt und der Produktionslückensatz gehört nicht zu unserem Konzept. Zweitens müssen wir davon ausgehen, dass in Folge der tiefen Rezession auch das Potenzialwachstum zurückgegangen ist. Dann wäre allerdings auch die Outputlücke wesentlich kleiner, da diese ja die Differenz zwischen tatsächlichem und potenziellem Wachstum misst. Das Risiko, die Produktionslücke zu überschätzen, birgt die Gefahr, dass die längerfristigen Inflationsgefahren unterschätzt oder zu spät wahrgenommen werden.
Frage: Der IWF hält die Gefahr einer Deflation im Euroraum, wenngleich nicht wahrscheinlich immer noch für latent gegeben. Teilen Sie dieses Urteil?
Dieses Urteil des IWF teilen wir nicht. Die Deflationsgefahren halten wir für sehr gering. Wenn jemals ein Deflationsrisiko für den Euroraum bestand, dann ist es heute deutlich geringer.
Frage: Wieso?
Erstens sind die Inflationserwartungen solide verankert. Zweitens bezieht sich der Disinflationsprozess, den wir derzeit beobachten, nicht auf alle Preise von Gütern und Dienstleistungen. Er geht vor allem auf den starken Rückgang der Rohstoff-, und hier besonders des Ölpreises zurück. Entsprechend erwarten wir nach einigen wenigen Monaten negativer Inflationsraten, die Rückkehr zu positiven Preissteigerungsraten.
Frage: Ist in der Konsequenz bei dem nächsten 12-Monatstender der EZB im September mit einem Aufschlag auf den Leitzins zu rechnen?
Das wird entschieden, wenn die Zeit dafür reif ist. In der ersten Augusthälfte ist es dafür noch zu früh.
Frage: Wie gerechtfertigt sind die Ängste vor einer Kreditklemme im Euro?
Die Diskussion um eine drohende Kreditklemme ist die eine Sache. Die Fakten sind etwas anderes.
Frage: Wie sehen diese aus?
Richtig ist, dass die die Gewährung von Buchkrediten sich verlangsamt hat. In den vergangenen Monaten nahmen die Veränderungsraten sogar negative Werte an, was vor allem bei den sehr kurzfristigen Krediten an nicht-finanzielle Unternehmen zu beobachten war. Dieser Rückgang ist aber in erster Linie nachfragebedingt.
Frage: Also alles in Ordnung auf der Seite der Banken?
Ich möchte nicht ausschließen, dass auch angebotsseitige Faktoren eine Rolle spielen. Das gilt aber nicht zwingend für das Eurogebiet insgesamt. Wir beobachten starke Unterschiede in der Kreditvergabe zwischen Ländern und Regionen und an verschiedene Sektoren.
Prinzipiell wirken die Zinssenkungen über das gesamte Fristigkeitsspektrum der Zinskurve und kommen bei Unternehmen wie Haushalten an. Aber ich würde mir durchaus ein rascheres Durchreichen wünschen.
Frage: Ist die Zurückhaltung der Banken nicht nachvollziehbar angesichts der Nachwehen aus der Finanzkrise und der sich verschlechternden Qualität der Kreditbücher?
Wichtig ist für uns, dass keine Hemmnisse für die Kreditvergabe an den privaten Sektor dadurch entstehen, dass nicht auseichend Liquidität zur Verfügung steht. Aber natürlich spielt auch eine Rolle, und das begrüße ich, dass die Risiken, die die Banken eingehen, realistischer beurteilt werden.
Frage: Wie meinen Sie das?
Eine angemessene Risikoeinschätzung ist eine conditio sine qua non für das Funktionieren der Finanzmärkte. Wer handelt, haftet und trägt das Risiko. Inzwischen sehen wir wieder eine deutlich höhere Risikobereitschaft bei den Banken als das unmittelbar nach dem Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers im September des vergangenen Jahres der Fall war. Es stellt sich dann natürlich die Frage, ob die extreme Risikoaversion der Banken gewichen ist, weil sie damit rechnen können, dass der Staat sie letztlich „rauspaukt“. Dann läge ein klassischer Fall von Moral Hazard vor.
Frage: Wie beurteilen Sie, dass die Banken derzeit hohe Gewinne mit Staatsanleihen machen, die vor allem deshalb aufgelegt wurden, um den Bankensektor zu retten?
Ich würde diese Verbindung so nicht herstellen aus zwei Gründen. Zum einen liegt hier ein zyklisches Phänomen vor. Auch in den zurückliegenden dreißig, vierzig Jahren war die Emissionstätigkeit der Staaten in Zeiten niedriger Zinsen auf einem höheren Niveau. Banken decken sich dann verstärkt mit diesen Wertpapieren ein. Ohnehin: Wie Investoren ihre Mittel anlegen, ist nicht Sache der Zentralbanken.
Frage: Zum anderen?
Zum anderen sind die wesentlichen Elemente zur Stützung des Bankensektors die staatlichen Garantien gewesen. Diese führen aber nur dann zu einem Anstieg der Staatsverschuldung und so zu einem steigenden Emissionsvolumen am Markt für Staatsanleihen, wenn sie wirksam werden.
Frage: Die Staatsschulden steigen weltweit drastisch. Wann sind die Grenzen der Belastbarkeit erreicht – oder wird sie bereits überschritten?
Die Situation in der Eurozone ist von Land zu Land unterschiedlich. Aber wie Sie sagen, ist es ein globales Phänomen, dass die öffentlichen Defizite in den USA, im Vereinigten Königreich, und auch in einigen Ländern des Eurogebiets in diesem Jahr im zweistelligen Bereich liegen werden. Dies ist auf Dauer nicht durchzuhalten. Es besteht die Gefahr, dass das Vertrauen in die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen verloren geht.
Frage: Betrifft das nur die Defizite?
Auch der Anstieg der Schuldensstände erfüllt mich mit großer Sorge. So steigen diese im Durchschnitt des Eurogebiets in nur 4 Jahren von 66% des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Jahre 2007 auf 84% im Jahre 2010. Dieses Problem wird verschärft durch die impliziten Lasten, die die Alterung der Bevölkerung im Euroraum mit sich bringt und die aktuell sogar noch unterschätzt werden.
Frage: Was bedeutet das konkret?
Für viele Länder ist bereits eine Grenze erreicht. Sobald es die Konjunkturlage erlaubt ist es dringend erforderlich, die Staatshaushalte zu konsolidieren. Um glaubwürdig zu bleiben, sollten diese Konsolidierungsschritte bereits 2010 in Angriff genommen und 2011 verstärkt fort gesetzt werden.
Frage: Angesichts der Rekordschulden: Wie groß ist die Gefahr eines Crowding-Out-Effekts und entsprechend steigender langfristiger Zinsen?
Die Gefahr, dass es durch die ständig wachsende Staatsverschuldung zu steigenden langfristigen Realzinsen und zur Verdrängung privater Investitionen kommt ist evident. Diese Effekte müssen vermieden werden - wenn sie noch zu vermeiden sind.
Frage: Wie glaubhaft sind Stabilitätspakt oder sonstige Regeln wie die deutsche Schuldenbremse eigentlich noch?
Der Ausstieg aus der hohen Verschuldung und aus den Zusatzmaßnahmen der vergangenen 12 Monate ist für Länder mit solchen Regeln politisch einfacher zu bewerkstelligen. Daher bleibt in Europa der Stabilitätspakt das Regelwerk, das zur Anwendung kommen muss. Denn der Pakt lässt nicht nur Spielraum, um auf die größte Wirtschafts-, Finanz- und Vertrauenskrise seit 90 Jahren angemessen zu reagieren. Er zeigt den Finanzministern auch, wie klare Exit-Strategien zu formulieren sind. Allerdings gebe ich zu, dass es hier unterschiedliche politische Signale gibt.
Frage: Inwiefern?
Während einige Staaten für die strikte Einhaltung des Paktes sind, gibt es auch Stimmen, die die Belastungen durch die Krise für Sonderfaktoren halten, welche man nicht mit den Vorgaben des Pakts in Einklang bringen könne. Diese Stimmen plädieren dafür, dass man ihnen mehr Zeit für die Konsolidierung lassen müsse. Diese Signale halte ich für bedenklich.
Frage: Die EZB geht im Rahmen ihrer unkonventionellen Maßnahmen enorme Risiken ein. Wie hoch ist derzeit das Risiko, dem die EZB ausgesetzt ist?
Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Wir haben entschieden gehandelt, wo wir Handlungsbedarf sahen. Hätten wir in den vergangenen beiden Jahren nicht so entschieden reagiert, wären die Finanzmärkte und der Bankensektor in Europa in eine noch tiefere Krise gekommen. Richtig ist, dass wir durch unser unkonventionelles Liquiditätsmanagement zusätzliche Risiken in unsere Bilanzen aufgenommen haben, wie übrigens auch die Regierungen erhebliche fiskalische Risiken eingegangen sind. Allerdings haben wir bei all unseren Maßnahmen ein hohes Maß an Vorsicht walten lassen.
Frage: Zum Beispiel?
Frage: Das pfandbasierte System der geldpolitischen Operationen ist eine Sache. Die EZB hat aber auch damit begonnen, Pfandbriefe und andere Covered Bonds direkt zu kaufen. Das ist qualitativ noch einmal etwas anderes. Wie kommen Sie aus diesem Engagement unbeschadet heraus?
Wir haben erst vor etwas über einem Monat damit begonnen, besicherte Anleihen zu kaufen. Geplant sind diese Maßnahmen über einen Zeitraum von 12 Monaten. Ich halte es daher für verfrüht, bereits jetzt die Ausstiegsmodalitäten festzulegen. Unser Ziel ist, die Aufschläge in diesem Marksegment zu reduzieren. Das ist uns bislang gut gelungen.
Frage: Als die Märkte vermuteten, dass die Bank von England ihr Maßnahmen der Quantitativen Lockerung auslaufen lassen würde, sind die Zinsaufschläge sofort nach oben geschossen. Was sind die Lehren daraus für die EZB?
Wichtig ist, den Exit - wenn die Zeit dafür gekommen ist – Markt schonend zu gestalten, weil ansonsten erneute Interventionen erforderlich werden könnten. Das sollte uns, nicht zuletzt wegen des relativ geringen Volumens von maximal 60 Mrd. Euro, vor keine allzu großen Probleme stellen.
Frage: Jede nationale Zentralbank entscheidet autonom, welche besicherten Anleihen und welche Laufzeiten sie kauft. Mögliche Verluste werden aber innerhalb des Eurosystems „sozialisiert“. Stimmt da die Anreizstruktur?
Frage: Inwiefern reichen die Instrumente, die für den europäischen Systemrisikorat derzeit diskutiert werden, um eine effektive makro-prudenzielle Aufsichtsinstanz bei der EZB zu etablieren? Konkret: Braucht der ESRB direkten Einblick in die Bücher der grenzüberschreitend aktiven Institute?
Der Systemrisikorat oder European Systemic Risk Board (ESRB) wird für die makro-prudenzielle Finanzsystemstabilität zuständig sein, nicht für die mikro-prudenzielle. Um seiner Aufgabe gerecht zu werden, muss der Systemrisikorat harmonisierte aggregierte Daten analysieren. Der Einblick in einzelne Institute ist nicht erforderlich.
Frage: Wie bewerten sie die Pläne, dass politische Vertreter und Zentralbanker in einem Gremium zusammenarbeiten?
Aus meiner Sicht ist die geplante Zusammensetzung des ESRB nicht politisch bestimmt. Es handelt sich hierbei um ein Expertengremium.
Frage: Wird nicht die Unabhängigkeit der Zentralbank durch die Aufsichtsaufgabe und damit verbundenen Nähe zur Finanzpolitik aufgeweicht?
Nein. Es ist auch schon heute Teil der Aufgaben der EZB, einen Beitrag zur Finanzstabilität zu leisten. Als solcher ist auch die Mitarbeit im Systemrisikorat zu verstehen. Der Systemrisikorat wird nicht über Geldpolitik zu reden und schon gar nicht zu entscheiden haben. Die Vorstellung den Leitzins als Instrument zu Sicherung der Finanzmarktstabilität einzusetzen, würde massiv gegen unser Mandat verstoßen. Wir haben ein klares Mandat mit dem prioritären Ziel, Preisstabilität zu gewährleisten.
Frage: Welche operativen Instrumente stehen dem ESRB zur Verfügung?
Der Systemrisikorat analysiert und bewertet die Stabilität des Finanzsystems im Euroraum. Er spricht Frühwarnungen und Empfehlungen an die Politik und die Aufsichtbehörden aus. Das kann bis zum Vorschlag konkreter Gesetzesinitiativen gehen. Zudem überwacht und bewertet er die Umsetzung der Vorschläge. Da er aber keine operativen Instrumente hat, wird der Systemrisikorat auch nicht operativ tätig werden.