Der Zerfall der Welt – und öffentlichen Ordnung wir sich im zweiten Halbjahr 2010 erneut beschleunigen. Jedem der vier „Single Point of Failure“ der Weltordnung, nämlich der Außenpolitik, den Finanzmärkten, der Wirtschaft und dem sozialen Frieden droht der Kollaps und damit der Kollaps des gesamten Systems.
Eine Analyse des Global European Anticipation Bulletin
Das Tagesgeschehen bestätigt jeden Tag erneut, dass die weltweite umfassende Krise sich sehr wohl in der Phase des Zerfalls der Welt – und öffentlichen Ordnung befindet. Selbst die großen Medien beginnen, wenn auch noch sehr verhalten und zaghaft, die Ereignisse als das zu kommentieren, was sie sind, nämlich historische Umbrüche.
Nach Auffassung von LEAP/E2020 wird sich der Zerfall der Welt – und öffentlichen Ordnung im zweiten Halbjahr 2010 erneut beschleunigen. Jedem der vier „Single Point of Failure“ der Weltordnung, nämlich der Außenpolitik, den Finanzmärkten, der Wirtschaft und dem sozialen Frieden droht der Kollaps und damit der Kollaps des gesamten Systems. Dies alles spielt sich vor dem allgemeinen Hintergrund einer wirtschaftlichen Gesamtsituation ab, in der die globale Rezession, die durch Konjunkturprogramme nur vorübergehend eingedämmt werden konnte, wieder an Schärfe zulegt.
Aber bevor wir im Detail unsere Vorhersagen über die Entwicklung der Wirtschafts- und Finanzkrise im zweiten Semester 2010 vorstellen werden, wollen wir festhalten, dass der Juni 2010 mit zwei anschaulichen Beispielen für den sich beschleunigenden Zerfall der Weltordnung aufwarten konnte: Eines im Bereich der globalen Wirtschaftsordnung, das andere betreffend der Fähigkeit der USA, die Politik ihrer Verbündeten zu kontrollieren.
Nach unserer Auffassung gibt es vier Single Points of Failure des internationalen Systems, die jeden Moment kollabieren können und damit auch das gesamte System funktionsuntüchtig machen:
1. Die öffentlichen Schulden der westlichen Staaten
2. Die europäischen Sparprogramme
3. Die Inflation in China
4. Die schrumpfende US-Wirtschaft
Jeder einzelne dieser Punkte wird im Verlauf des zweiten Halbjahrs 2010 eine Krise in einem bestimmten Wirtschaftssektor, in einer bestimmten Region oder gar weltweit auslösen.
In dieser Pressemitteilung der 46. Ausgabe des GEAB wollen wir unsere Vorhersagen zum vierten Single Point of Failure im 2. Halbjahr 2010 vorstellen, also die schrumpfende US-Wirtschaft. Darüber hinaus beinhaltet diese Ausgabe des GEAB einen weiteren Auszug des Handbuch der politischen Antizipation, der die Fragen der Informationsquellen und der Forschergruppe behandelt, sowie Informationen über das neue Ausbildungsjahr in politischer Antizipation 2010/2011, das ausschließlich Lesern des GEAB offen steht. Weiterhin stellen wir in dieser Ausgabe unsere Ratschläge zu Anleihen der US-Gebietskörperschaften („Munis“), den Aktienmärkten, Devisen und Immobilien vor, die unsere Leser gegen die Risiken des zweiten Halbjahrs 2010 wappnen sollen.
Was die globale Wirtschaftsordnung anbelangt, wollen wir daran erinnern, dass vor etwas mehr als einem Jahr der G20 für sich in Anspruch nahm, eine Art Weltregierung zu etablieren, und die USA sich noch der Illusion hingaben, der entstehenden neue Weltordnung ihre Prioritäten aufzwingen zu können. Aus beidem ist nicht viel geworden: Die Finanzminister der G20-Staaten konnten bei ihrem Treffen in Busan in Süd-Korea sich nicht auf eine globale Bankenabgabe einigen, obwohl dieses Projekt von den USA, Großbritannien und den Euro-Ländern unterstützt wurde. Und sie verweigerten sich dem US-Wunsch, sich für die Auflage weiterer Konjunkturprogramme auszusprechen. Die G20 waren sich aber nicht zu blöde, „zu beschließen“, dass jeder Staat nach eigenem Gutdünken und finanziellen Möglichkeiten Programme zur Ankurbelung der Wirtschaft beschließen könne.
Das klingt wahrlich nicht nach dem neuen Zentralorgan der Weltregierung, als das vor gerade etwas mehr als einem Jahr der G20 anzutreten schien. Ganz im Gegenteil: Der G20 ist Abbild der nationalen Egoismen der Staaten geworden, von denen wir schon vor langer Zeit vorhersagten, dass sie entscheidender Antrieb der Politik der nationalen Regierungen werden würden, weil die Weltgemeinschaft versagt hatte, den nunmehr instabilen Dollar durch eine neue, für alle Staaten akzeptable Weltreserve- und Leitwährung zu ersetzen.
Heute ist die bisherige Weltordnung bereits so in Misskredit geraten, dass die meisten Staaten nicht mehr bereit sind, nach den US-Regeln zu spielen. Vielmehr glaubt jeder, nach den eigenen, in seinem Interesse geschriebenen Regeln, agieren zu können (4). Und da es keine gemeinsamen Spielregeln mehr gibt, ist auch kein gedeihliches Zusammenspiel zwischen den Staaten mehr möglich. Diese Situation wird sich in den nächsten Monaten noch verschlimmern.
Zusammenhang zwischen der erweiterten Arbeitslosigkeitsstatistik (U6) und dem Anteil der in Verzug befindlichen Hypothekenkredite im ersten Quartal 2010 - Quelle : Bureau of labor Statistics / CalculatedRiskBlog, 05/2010
Der Tatsache, dass die Krise die Lebensqualität der Menschen massiv beeinträchtigt, wird nicht die notwendige Aufmerksamkeit in den Medien und in der Politik gewidmet. Alle und alles konzentriert sich auf die Defizite des Bundeshaushalts. Aber die Verarmung der großen Mehrheit der Menschen in Amerika und die Defizite der Bundeshaushalte sind lediglich die zwei Seiten einer Medaille.
Aber das Abrutschen großer Teile der Mittelschicht in die Unterschicht ist ein Aspekt der Krise, der im zweiten Halbjahr zeigen wird, welche Sprengkraft in ihm steckt. Zum einen politische Sprengkraft, was sich an den Wahlergebnissen ablesen lassen wird, zum anderen finanzielle, die man erkennen wird, wenn die Krise der « Munis », die Anleihen der US-Stadte, - Gemeinden und – Kreise bald ausbrechen wird (Näheres dazu in den Empfehlungen).
Wir hingegen machen uns keinerlei Illusionen über den Ernst der Lage. Für die große Mehrheit der Amerikaner haben sich die Lebensbedingungen seit 2008 massiv verschlechtert. Die offiziellen Statistiken der Bundesregierung und die Stellungnahmen der Experten geben die Lage verzerrt wieder (8). Die wahre Arbeitslosenquote bewegt sich zwischen 15% und 20% (9); in den Städten und Regionen, die von der Krise besonders hart getroffen sind, liegt sie sogar zwischen 30% und 40% (10).
Noch nie zuvor waren so viele Amerikaner auf Lebensmittelmarken der US-Regierung angewiesen. Noch nie musste der Bund so viel Geld für Transferleistungen an bedürftige Familien aufbringen (11), damit ihnen ihr Existenzminimum zur Verfügung steht. Gleichzeitig kürzen die Bundesstaaten massiv ihre Ausgaben (12). Die Einschränkung der öffentlichen Leistungen erschwert die Lebensbedingungen vieler Familien, während gleichzeitig die entlassenen Staatsbediensteten die Ränge der Arbeitssuchenden anschwellen lassen (13). Dabei sollen doch die Konjunkturprogramme der Regierung Obama angeblich gerade jetzt ihre maximale Wirkung erzielen (14).
Da ist es doch kaum verwunderlich, dass der Konsum der Privathaushalte zurückgeht, wie man an den rückläufigen Einzelhandelsumsätzen im Mai ablesen kann. Und dass die Preise am Immobilienmarkt weiter zurückgehen (15). Die verlässlichsten Wirtschaftsfrühindikatoren weisen übrigens darauf hin, dass die die US-Wirtschaft im nächsten Halbjahr erneut schrumpfen wird (16). Dabei hatte doch Ben Bernanke ein Wachstum für das Jahr 2010 von 3,5% vorhergesagt. Nach unserer Ansicht kann sich die US-Wirtschaft glücklich preisen, wenn das Gesamtjahreswachstum oberhalb der Null liegen wird.
Für die große Mehrheit der Amerikaner ist, anders als Washington und Wall Street verlautbaren lassen, das große Sparen schon angesagt. Viele sind ohne Arbeit, ohne Wohnung, überschuldet, unfähig, die College-Ausbildung ihrer Kinder zu finanzieren oder sich Ferien zu leisten. Selbst die Deckung des täglichen Lebensbedarfs ist für viele inzwischen ein Problem.
In vielen Städten und Gemeinden (17) wurden die öffentlichen Dienstleistungen eingeschränkt: Mülltonnen werden seltener geleert, die Post nicht mehr jeden Tag ausgetragen (18), auf den Straßen patroulieren weniger Polizisten, die Schlangen an den Schaltern der örtlichen Behörden werden länger, die Schulklassen größer, das Kantinenessen und der Schulbusdienst eingestellt oder beschränkt. Auch wenn die Bundesregierung international noch für mehr Schulden und Konjunkturprogramme trommelt, haben die Städte, Gemeinden und Bundesstaaten bereits eine Politik der Sparens eingeleitet. Und die Sparschraube wird weiter angezogen.
Haushaltsdefizite der US-Bundesstaaten im Steuerjahr 2010 (als Prozentsatz der Gesamtausgaben) - Quelle : Freerisk, 04/2010
Diese Einschränkungen in der Qualität des täglichen Lebens für die Mehrheit der Amerikaner ist es, was wir als « schleichendes Sparprogramm für die Unter- und Mittelschicht » bezeichnen. Sie sind seit zwei Jahren die auffälligste Realität in der US-Wirtschaft und –Gesellschaft. Sie brachten den konsumsüchtigen US-Verbraucher zur Strecke, dessen Ende wir bereits Ende 2006 wegen Zahlungsunfähigkeit vorhergesagt hatten. Die Zahlungsunfähigkeit des individuellen Verbrauchers aus der Unter- oder Mittelschicht ist allmählich auch in die höheren Wirtschaftsebenen vorgedrungen: Bauunternehmen, Banken, Autohersteller. Heute, mit Auslaufen der Konjunkturprogramme des Bundes, sind auch die Bundesstaaten und erneut die Banken insolvenzgefährdet.
Und sogar der Bundesregierung droht, Bankrott erklären zu müssen. Denn die Strategie, die Medien gegen Griechenland und den Euro in Stellung zu bringen, war so erfolgreich, dass der Eurozone und den anderen G20-Ländern der Schreck über die Staatsschulden so in die Glieder gefahren ist, dass sie die Gesundung der staatlichen Finanzen zur neuen Priorität erhoben und der Fortsetzung der von den USA gewünschten Verschuldungspolitik eine Absage erteilt haben.
"Seit nunmehr zwei bis drei Jahrzehnten ist das einzige, was die USA noch produzieren, Schulden, die sie ins Ausland exportierten. Auch dies ist nun zu Ende."
Ohne die Unterstützung der anderen Staaten kann aber auch ein so großer Staat wie die USA keine schuldenabhängige Wirtschaftspolitik mehr betreiben (19). Und ohne weitere Geldzuflüsse ist die US-Wirtschaft zu einer Krise und schmerzhaften Anpassungsprozessen verdammt. Seit nunmehr zwei bis drei Jahrzehnten ist das einzige, was die USA noch produzieren, Schulden, die sie ins Ausland exportierten. Auch dies ist nun zu Ende. Der Dollar ist nur noch ein Wechsel, der auf eine überschuldete Wirtschaft gezogen wurde.
Als die G20-Staaten sich weigerten, dem Vorschlag des US-Finanzministers Timothy Geithner zu folgen und eine weitere Runde schuldenfinanzierter Konjunkturprogramme aufzulegen, zwangen sie die US-Regierung zu einem Politikwechsel, der für die internationalen Finanzmärkte bisher unvorstellbar war: Demnächst werden auch die Ausgaben der US-Bundesregierung sinken müssen. Der G20 hat in dieser Hinsicht aber nur die voraussichtlichen Konsequenzen der Novemberwahlen vorweggenommen.
Denn es ist davon auszugehen, dass die Wähler das Washingtoner Parteiensystem massiv abstrafen werden. Spätestens dann hätten die etablierten Parteien erkannt, dass sie nicht auf ausgetretenen Wegen weitergehen können, wenn sie die Präsidentschaftswahlen 2010 gewinnen wollen; der Boden für die „geistige Revolution“, die Abkehr vom Weg der ständig wachsenden Verschuldung, wäre bereitet gewesen.
Wir sind der Auffassung, dass sowohl die innenpolitische Lage in den USA wie auch die internationalen Wirtschaftsbedingungen und die Lage an den Finanzmärkten der US-Regierung im zweiten Halbjahr 2010 gar keine Wahl lassen: Sie wird das ehrgeizigste Sparprogramm seit sechzig Jahren und die massivsten Steuererhöhungen seit fünfzig Jahren beschließen müssen.
Man muss sich vor Augen halten, dass die Weltwirtschaft und das internationale Finanzsystem sich seit 1945 (und vielleicht sogar schon seit den dreißiger Jahren) auf den Mythos des ewigen Wachstumsmotors USA gründet; auch wenn es gelegentlich zu kurzen Schwächephasen kommen könne, so wäre dennoch nur ein Motto für die US-Wirtschaft denkbar: Höher, schneller, mehr. Da die USA nur ein schwaches Sozialversicherungssystem kennen, war das Wirtschaftswachstum auch notwendig, um zu verhindern, dass Millionen von Amerikanern in die Armut abstürzten.
Im Gegensatz zu den einfachen Menschen in den USA haben die Weltwirtschaft und die internationalen Finanzmärkte überhaupt keine Absicherung, wenn die US-Wirtschaft zu schrumpfen beginnt. Wenn bereits die griechischen und spanischen Sparprogramme einen Anflug von Panik an den Finanzmärkten entstehen lassen, kann man sich leicht vorstellen, wie dort Ausgabenkürzungen in den USA aufgenommen werden. Wir reden hier immerhin von Summen von mindestens 1000 Milliarden in einem Zeitraum von drei bis fünf Jahren (20).
Wie sollen die internationalen Finanzmärkte den Wegfall ihrer wesentlichen Existenzvoraussetzung kompensieren können? Die internationalen Finanzmärkte sind ein Single Point of Failure des gegenwärtigen internationalen Systems. Wenn die USA sparen müssen, wird sich die Gefahr, die jedem Single Point of Failure inherent ist, nämlich dass sein Ausfall das gesamte System lahm legt, sicherlich in der zweiten Jahreshälfte 2010 realisieren.