Führende deutsche Altersforscher wenden sich gegen den Vorschlag der SPD, die staatlich geförderte Altersteilzeit fortzuführen. „Wer gesunde Menschen, die 90 Jahre alt werden können, dazuverlockt, mit 60 in den Ruhestand zu gehen, schickt sie auf einen gefährlichen Weg“, sagt die Leiterin des Zentrums für lebenslanges Lernen an der Jacobs Universität Bremen, Ursula Staudinger dem Spiegel.
„Die Probleme mit Stress und körperlichem Verschleiß am Arbeitsplatz liegen auf der Hand“, sagt Staudinger, „aber wir unterschätzen massiv, wie zentral Arbeit für das Wohlbefinden des Großteils der Bevölkerung ist.“ Statt für einen früheren Ruhestand, fordert Staudinger, sollte sich die SPD dafür einsetzen, dass ältere Arbeitnehmer weitergebildet werden und Menschen in körperlich anstrengenden Berufen rechtzeitig Alternativen bekommen.
„Bodenlosen Unsinn“ nennt auch der Mannheimer Altersökonom Axel Börsch-Supan den Vorstoß der Sozialdemokraten für mehr Altersteilzeit ab 60. Und Ulman Lindenberger, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, urteilt: „Die SPD war schon einmal deutlich weiter.“ Nicht nur die Volkswirtschaft, auch der Einzelne könne von fortgesetzter Arbeit profitieren, behaupten die Wissenschaftler.
Mit Ausnahme von Knochenjobs bringe Arbeit nicht nur Einkommen, sondern auch Gesundheitsförderliches: enge Sozialkontakte, einen festen Tagesrhythmus, körperliche und geistige Herausforderungen. Eine noch unveröffentlichte Studie des Deutschen Zentrums für Altersfragen kommt zu dem Schluss: Der Übergang in den Ruhestand sei zwar keinesfalls generell ungesund.
Aber je früher vor der normalen Rentengrenze und je unfreiwilliger er ablaufe, desto größer sei die Gefahr von Gesundheitsschäden. 40 Jahre lang am Arbeitsplatz Giftdämpfe einzuatmen oder am Fließband nur eine Bewegung aus-zuführen ist zweifellos ungesund. Doch hier seien Arbeitsmediziner und Personalmanager gefragt, nicht Rentenversicherer, fordert Max-Planck-Direktor Lindenberger. „Die Fähigkeiten von älteren Menschen werden massiv unterschätzt“, sagt er, „aber Unternehmer müssen erst lernen, sie zu mobilisieren und zu erhalten.“
Lindenberger sieht eine neue soziale Frage aufkommen: Hochgebildete, wohlhabende Menschensind am ehesten in der Lage, ihren Ruhestand aus eigenen Kräften gesund und aktiv zu gestal-ten. „Die joggen und lernen Sprachen.“ Für die weniger privilegierte Mehrheit hingegen sei die Herausforderung durch Arbeit ungleich wichtiger, um fit zu bleiben. Zwei Krankheiten, die MillionenMenschen betreffen, treiben die Wissenschaftler besonders um: Depression und Demenz.
Bekannt ist, dass übermäßiger Stress am Arbeitsplatz Krankheiten des Gehirns begünstigenkann. Aber die Hinweise mehren sich, dass normal belastende Arbeit durch soziale Teilhabe, Bewegung und Aktivität umgekehrt einen Schutz vor diesen Krankheiten bieten kann.Noch verschließt sich die große Mehrheit der Deutschen dem neuen Denken.
In Umfragen lehnen es bis zu 90 Prozent der Befragten ab, das Rentenalter bis 2029 sukzessive von 65 auf 67Jahre anzuheben. Von unmittelbar Betroffenen dagegen ist anderes zu hören: Bei einer großangelegten Studie hatAxel Börsch-Supan ermittelt: „Die Freude über den Vorruhestand verpufft schnell.“ Viele wolltenwieder zurück in den Job, allerdings mit einer reduzierten Arbeitszeit, hat auch Staudinger herausgefunden. Für „supergefährlich“ hält Börsch-Supander die Fortführung der Altersteilzeit, wie dieSPD sie fordert. „Freibier für alle, das war schon immer beliebt. Aber dieses Freibier wäre ein vergiftetes Geschenk“, sagt der Wissenschaftler.