Von Karl Grobe
Zwanzig Jahre lang hatte sein Heimatland ihn ausgestoßen; seine Heimat war es nicht mehr gewesen. Unter das "rote Rad" war es gekommen, seit 1918, seinem Geburtsjahr; das epische Werk dieses Titels ist vom "August 14" über "Oktober 16" nur mehr bis "April 17" gelangt. Es enthält Alexander Issajewitsch Solschenizyns Funde auf der Suche nach den Gründen und nach den Folgen dessen, was Lenin in Zürich ausgeheckt habe. Das wollte kaum mehr einer wissen in dem veränderten Staat, der ihm die erste Aufdeckung verschiedener Wahrheiten verziehen und Wohnrecht zugestanden hatte. Russland jagt anderen rasch wechselnden Utopien nach, nur jener nicht, die Solschenizyn aus seiner jüngeren Geschichte zu destillieren unternahm.
Wenn er Utopist war, dann ein rückwärtsgewandter; das unterschied ihn von jenen, deren Vaterland die Zukunft ist und nie erreicht werden kann. Dass ausgerechnet die Komsomolskaja Prawda, eine Zeitung, welche den Namen der Jugend im Titel trug, sein Manifest "Wie wir Russland einrichten können" in damals, 1990, noch hoher Auflage verbreitete, hatte den Ruch des tragischen Missverständnisses. Alexander Issajewitschs Einrichtungsvorschläge waren dem Katalog der rechtgläubigen Panslawisten entnommen, der seit der Jahrhundertwende schon mit einigermaßen geringem Kurswert gehandelt wurde. In diese Vergangenheit zurückzutauchen waren nur jene gesonnen, die sie in ihren Träumen nie verlassen haben.
Kein Prophet also? Ein rückwärtsgewandter, ein Historiker, ist dieser Mann seit seiner Ausweisung in den Exiljahren geworden. Sein Leben in der Gegenwart hatte ihm das Sowjetregime mehrmals gestohlen. Zuerst im Februar 1945; der sechsundzwanzigjährige Mathematiker und Physiker hatte in einem Brief von der ostpreußischen Front einem Freund kritische Worte über den großen Stalin zu schreiben gewagt, das gab acht Jahre Lagerhaft. An Stalins Todestag, dem 5. März 1953, wurde er aus dem stacheldrahtumzäunten kasachischen Lager entlassen ins größere sozialistische; der Wohnort im Gebiet Dschambul war ihm zugewiesen, Verbannung, beschlagnahmtes Leben.
Später kam, mit dem literarischen Schlagwort Ilja Ehrenburgs, Tauwetter auf in der Sowjetunion; das war zu Nikita Chruschtschows Zeiten, es wurde rehabilitiert. Solschenizyn ließ sich als Mittelschullehrer in Rjasan nieder, zweihundert Kilometer von Moskau, lehrte und schrieb. Und noch war Tauwetter, als der mutige Alexander Twardowskij in der literarischen Zeitschrift Nowyj Mir das erstemal den Freigelassenen im Druck erscheinen ließ. "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch"handelte von Zwangsarbeit, das war Tabubruch, freilich ein von "ganz oben" erlaubter. Der Autor wurde, um der sparsam dosierten Wahrheit willen, in den Schriftstellerverband aufgenommen, konnte auch weiteres publizieren, doch nach zwei Jahren - Leonid Breschnew regierte - unterzog ihn das alle Töne angebende Parteiorgan Prawda harscher Kritik. Da wurde mancher außerhalb der Grenzen des real existierenden Sozialismus aufmerksam auf den Dissidenten.
Das Leben des anerkannten Schriftstellers aber war ihm ebenso gestohlen wie seine Jugend. Zur Annahme des Nobelpreises für Literatur nach Stockholm zu reisen wagte er 1970 nicht mehr; man hätte ihn, rückreisend, an der Grenze abweisen können. Schärfer wurde seine Kritik an der Zensur und am Schweigen der orthodoxen Kirche; grundsätzlicher seine Auseinandersetzung mit dem Sowjetleben in jener Zeit, die später als Stagnationsperiode historisiert wurde.
Den "Archipel Gulag" verfaßte Solschenizyn in jenen Jahren. Das Titelwort wurde zur Metapher. Es ist abgeleitet von der Kurzform von "gossudarstwennoje uprawlenije" (staatliche Verwaltung) und dem aus dem Deutschen - woher sonst—entlehnten Wort Lager. Aussicht, das Werk in der Sowjetunion zu veröffentlichen, bestand da nicht. Geraunt wurde über das Manuskript. Der unterdrückte Autor, der Dissident Solschenizyn wurde als Gesprächs- und Interviewpartner bekannter, weil der internationale Kurzwellenrundfunk seine russischen Worte nach Rußland zurückstrahlte.
Verweise, Verhöre, ernste Warnungen folgten. Solschenizyns Manuskript gelangte nach Paris, dort erschien es im Dezember 1973 in russischer Sprache, doch in den russischen Sprachbereich kamen nur die Exemplare, die Ideologiewächter und Geheimdienste als Belastungsmaterial für erforderlich hielten.
Nach zwei Wochen war die Prawda mit dem Hochverratsvorwurf gehorsam zur Stelle, verglich den Dichter mit dem General Wlassow (der 1941 vor Moskau die Seiten gewechselt hatte), und aus dem weiten Sowjetland, "wo das Herz so frei den Menschen schlägt", wie es in einem populären Lied hieß, strömte eine Sturzflut Leserbriefe in die Unionshauptstadt. Kein Schreiber konnte füglich den "Archipel Gulag" gelesen haben, umso linientreuer war der Kanon der Verdammung. "Sturzbäche mit Schlamm und Morast" habe der Schreiberling, Verräter und Überläufer "auf die sowjetishe Jugend ausgeschüttet", meldete die Nachrichtenagentur TASS, in der Eile vergessend, dass der sorgsam befolgte Erziehungsauftrag der Zensurbehöre Glawlit die Jugend vor all dem Schmutz beschützte. Am 13. Februar 1974 betrat Solschenizyn, durchaus unfreiwillig, ausländischen Boden, von einer Aeroflot-Maschine in Frankfurt abgeliefert wie - ein lästiger Ausländer.
Zwanzig Jahre Exil, zwanzig Jahre lang war ihm verwehrt, die russische Erde zu betreten, über das Ende der Sowjetunion hinaus. Freilich, im Laufe der zwei Dezennien legte sich rasch die nützliche Sensation, die aus Dissidenz und Vertreibung herrührte; je lauer der Kalte Krieg wurde, desto relativer der Nutzen, der aus der persönlichen Tragödie eines Aufrechten zu ziehen war. Als man ihm die Wiedereinreise gestattete, hat mancher sich erst besinnen müssen, was mit dem Namen und der Person anzufangen sei.
Dem russischen Publikum bot letztlich nicht einmal die nun, seit Gorbatschow, endlich legale Lektüre des "Archipel Gulag" mehr Neues. Archive waren geöffnet, über Stalins Diktatur zum Überdruss schon geschrieben worden; beschämt vor der eigenen Geschichte, mochte das neue Russland den Dissidenten von gestern ebensowenig mehr hören wie den Wegweiser ins prärevolutionäre Vorgestern. Zuletzt hat der Gang der Dinge Solschenizyn auch noch um seine Vision bestohlen. Doch jener Präsident, der sich bei der Suche nach russischer Identität gern auch bei Stalin bedient, hat ihm im vergangenen Jahr den Staatspreis zuerkennen lassen; mit jenem Wladimir Putin hatte der alternde Solschenizyn wohl zu seiner eigenen zufriedenen Überraschung einiges gemeinsam: das Bekenntnis zur orthoxen Kirche, die Kritik an jenem räuberischen, raffenden Frühkapitalismus, der als nächste Gesellschaftsformation auf den Stalin-Breschnew-Sozialismus zu folgen begonnen hatte. Großrussentum und Religiosität - diese Topoi hatten anfangs andere besetzt, Rabauken und Faschisten, Wendehälse und Wirrköpfe.
Mit denen sich einzulassen war Solschenizyns Sache nicht; und jene brauchten ihn nicht mehr. Wladimir Putins Russland aber fand zu ihm. Sein Epos "Der erste Kreis", die Erfahrungen des Häftlings in einem Sonderlager für Wissenschaftler verarbeitend, wurde zu einer zehnteiligen Fernsehserie. Aber einer historischen Bewältigung des stalinistischen Systems versagt sich Russland.
So ist einer, der Wahrheiten sagte zur Unzeit der Diktatur und bei unzeitigen Wahrheiten ankam in Zeiten des freien Wortes, zuletzt noch geprellt worden um die Praezeptor-Rolle, die andere ihm eingeredet hatten und an die er schließlich selber glaubte. Die gestohlenen Leben des Alexander Issajewitsch Solschenizyn - es waren die Leben jenes Iwan Denissowitsch, der für die Mehrheit aller Sowjetbürger Metapher ist. Die Erinnerung an jene Zeiten ist verdrängt, weil sie ungut ist; und über andere Wege, die Russland hätte gehen können, spricht man heute in einer Sprache, die sich anzueignen Solschenizyn nicht mehr jung genug war. Mit 89 Jahren ist er gestorben.
Quelle: Frankfurter Rundschau Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Karl Grobe.