In seinem ständigen Bemühen, Fakten zu verdrehen, verbiegen oder ganz zu verschweigen hat sich der SPIEGEL die Target2 Billionen-Bombe vorgenommen. Die sei angeblich kein Problem. Die deutsche Billionen-Kreditkarte für die Südschiene würde sich nämlich in Luft auflösen. Kann der SPIEGEL-Leser also unbesorgt weiterblättern?
Von Egon W. Kreutzer
Stefan Kaisers Artikel bei SPIEGEL ONLINE "Sitzt Deutschland wirklich auf einer Billionen-Bombe?" sollte als Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz geahndet werden. Der Mix aus Aufputschmittel gegen die AfD und Schlafmittel für den besorgten Bürger tarnt sich als Aufklärung.
"Aber was genau bedeuten diese Zahlen eigentlich?", fragt Kaiser in Oberlehrerattitüde und beeilt sich dann, große Nebelkerzen zu zünden. Zwischen "nur virtuell", "nur ein Buchungsystem" und "die Bundesbank hätte ein gewaltiges Problem", liegen seine Ahnungen, je nachdem, ob er davon ausgeht, dass nichts passiert, oder dass die Euro-Zone auseinanderfliegt.
Am Beispiel eines italienischen Unternehmens, das von einem deutschen Unternehmen eine Maschine kauft und den Kaufpreis überweist, glaubt er beweisen zu können, dass hier kein Schuldverhältnis entstanden ist, dass "Italien in diesem ganzen Prozess kein Geld geliehen" hat, denn die deutsche Firma habe ja ihr Geld bekommen, und zwar gegen Ware. Von einem Kredit könne also keine Rede sein.
Diese Betrachtungsweise ist fast ein Grund zum Fremdschämen.
Denn der Vorgang sieht in Wirklichkeit so aus, dass das deutsche Unternehmen zwar Geld erhalten hat, aber nicht aus Italien, nicht vom italienischen Unternehmen, sondern von der Bundesbank, die es quasi "ausgelegt" hat. In Italien sieht es hingegen so aus, dass der Käufer der Maschine den Kaufpreis zwar überwiesen hat, sein Konto also belastet wurde, dass dieses Geld aber bei der italienischen Notenbank festsitzt, und eben nicht an die deutsche Bundesbank weitergegeben wird.
Die ursprüngliche Annahme hinter diesem Verrechnungssystem war, dass sich dieser offene Saldo durch eine Lieferung von Olivenöl und Rotwein an ein deutsches Unternehmen irgendwann wieder ausgleichen würde, oder, im Großen und Ganzen gesehen, dass die Handels- und Zahlungsbilanzen sich innerhalb der EU "ganz von alleine" ausgleichen würden. Genau dies geschieht aber nicht, unter anderem deshalb, weil Deutschland sich in der Rolle des Exportweltmeisters so gut gefällt, dass ein Außenhandelsgleichgewicht noch nichteinmal angestrebt wird.
Fakt ist:
Ein Teil der deutschen Exporte wird über die Target-2-Salden direkt von der Bundesbank finanziert. Selbst Fluchtkapital italienischer Anleger, das von italienischen auf deutsche Konten transferiert wird, wird über die Target 2 Salden von der Bundesbank zur Verfügung gestellt.
Hier ist überhaupt nichts "nur virtuell" - und was die Aussage "nur ein Buchungssystem" bedeuten soll, erschließt sich weder einem Buchhalter noch einem Banker.
Target-2-Salden entsprechen Bankkonten mit unbegrenztem, zinslosem Überziehungsspielraum. Auf diesen Konten werden reale Geldforderungen notiert und saldiert, hinter denen ganz reale Ansprüche auf Ausgleich stehen.
Dass dieser Ausgleich nicht eingefordert werden kann, weil bei der Installation des Systems die primitivsten Sicherungsregeln außer Acht gelassen wurden, wiegt die Schuldner zwar in der ruhigen Gewissheit, ihre Schulden vollkommen unbehelligt bis zum St. Nimmerleinstag stehen lassen zu können, doch die Gläubiger, hier vor allem die deutsche Bundesbank, sollten sich verzweifelt die Haare raufen.
Doch weil die alles entscheidende Frage nie gestellt wird, muss man sich auch nicht mit der unangenehmen Antwort auseinandersetzen. Diese Frage lautet:
Wären die Zentralbanken der Euro-Staaten, gegenüber denen die Bundesbank inzwischen insgesamt rund eine Billion Euro an offenen Forderungen in den Büchern hat, überhaupt in der Lage, diese Forderungen auszugleichen?
Die Antwort heißt vermutlich: Nein, und keinesfalls in vollem Umfang.
Das wiederum bedeutet, dass einige nationale Zentralbanken (längst) pleite sind, dass die Target-2-Salden also auch ein Mittel der Konkursverschleppung sind. Abgesehen davon, dass so eine Zentralbank im Euro-System nicht pleitegehen kann, weil die EZB ihr auch auf anderen Wegen Kredit gewähren würde, handelt es sich zumindest um eine "kostenlose" Rettungshilfe, die jedoch wieder nicht nur der italienischen Zentralbank (und mittelbar) auch den italienischen Geschäftsbanken nützt, sondern ebenso auch der deutschen Exportindustrie und nicht zuletzt auch den deutschen Banken, denen ja Mittel in Form von Zentralbankguthaben zufließen, die es ohne diese Saldenmechanik nicht geben könnte.
Genau betrachtet bewirken die Target-2-Salden in der momentanen Konstellation auch eine Ausweitung der Geldmenge im deutschen Wirtschaftsraum, die zur Inflation führen könnte, würde nicht der Großteil als Unternehmensgewinn ausgewiesen und wiederum davon der Großteil als Spielgeld an den Finanzmärkten landen.
Die Auflösung des Problems wäre zum Beispiel dadurch zu erreichen, dass in Deutschland die Löhne so weit erhöht werden, dass Geldflüsse in die Gegenrichtung durch Importe (und Auslandsreisen) genug Geld in die Kassen des Auslands gelangen ließen, so dass sich die Salden von alleine ausgleichen.
Dies ist jedoch nicht im Interesse der deutschen Exportwirtschaft, denn höhere Löhne würden die Gewinne schmälern, eventuell sogar die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt und im EU-Binnenmarkt schwächen, was wiederum die Gewinne schmälern würde. Von daher ist es nur folgerichtig, dass das Thema "Target-2-Salden" entweder gar nicht, oder, wenn es nun mal gar nicht anders geht, verharmlosend behandelt wird.
Soweit zu Kaisers Behauptung, es sei ja alles nur virtuell und nur ein Buchungssystem, es habe ja jeder seine Ware und sein Geld erhalten. Dass - ohne das Instrument der Target-2-Salden - diese Transaktionen nicht möglich gewesen wären oder durch "richtige" Kreditvergaben hätten ermöglicht werden müssen, schien ihm dabei nicht erwähnenswert.
Nun die andere Seite der Medaille.
Kaiser schreibt:
"Schwierig wird es, wenn ein Land den Euro verlassen will - und noch schwieriger, wenn es mehrere Länder sind." Und: "Noch schlimmer wäre es, wenn die gesamte Eurozone mitsamt der EZB auseinanderflöge. Dann (...) hätte (die Bundesbank) ein gewaltiges Problem. Aber von solchen Problemen gäbe es in diesem Fall wahrscheinlich noch mehr."
Heißt: Da denken wir vorsichtshalber gar nicht darüber nach. Nach uns die Sintflut.
Wollte ein Land die Euro-Zone verlassen, könnten die Verbindlichkeiten (oder Forderungen) die dieses Land aus den Target-2-Salden gegenüber der EZB in den Büchern hat, lediglich in "normale" Forderungen oder Verbindlichkeiten umgewandelt, also aus dem Target-System herausgenommen werden. Inwieweit die dann vom ausscheidenden Land bedient werden oder eingefordert werden können, stünde dann ebenso in den Sternen, wie im Augenblick auch. Es ergäbe sich keine Veränderung der Vermögensverhältnisse.
Das gilt natürlich auch, wenn mehrere Länder (gleichzeitig) aussteigen würden.
Und, wenn das gesamte Euro-System in die Luft fliegt, dann ergäben sich bilaterale Schuldverhältnisse zwischen allen nationalen Zentralbanken, deren Werthaltigkeit sich ebenfalls dadurch nicht verändert, dass auf die übergeordnete Buchhaltung verzichtet wird.
Anders, wenn ein Austritts-Kandidat erklärt, er könne oder wolle seine Euro-Schulden nicht tilgen. Dann müsste diese Forderung, von der sowieso bekannt war, dass sie absolut uneinbringlich ist, halt ausgebucht werden und damit endlich der überfällige Schritt in Richtung Bilanzklarheit und -Wahrheit getan werden.
Der Zerfall der Euro-Zone, ob schrittweise oder in einem großen Knall, würde keine Veränderung der bilateralen Schuldverhältnisse zwischen den Mitgliedsländern bewirken. Er würde allenfalls sichtbar machen, was bisher noch unter der Decke gehalten wird.
Wenn das bisher niemanden interessiert hat, warum sollte es dann irgendjemand interessieren?
Der letzte Unsinn findet sich am Ende von Kaisers Aufsatz.
Da behauptet er:
"Wenn es keine nationalen Zentralbanken mehr gäbe, wären übrigens auch die Target-Salden irrelevant."
Die nationalen Zentralbanken stellen im internationalen Zahlungsverkehr doch nur eine verdichtende "Hierarchiestufe" dar, deren Existenz oder Nichtexistenz keinen Einfluss auf die originären Zahlungsströme und deren Salden hat.
Ausschlaggebend für die Existenz der Target-Salden war und ist der politische Wille, der, würde er unverändert fortbestehen, auch beim Wegfall der nationalen Zentralbanken einen buchhalterischen Ersatz dafür schaffen würde.
Ebenso könnte ein geänderter politischer Wille auch bei Fortexistenz der nationalen Zentralbanken die Target-Salden verschwinden lassen. Es würde ausreichen, das Regelwerk so zu verändern, dass alle Salden in regelmäßigen Zeitabständen auszugleichen sind.
Genau das ist aber offenbar gar nicht erwünscht. Weder von den Euro-Staaten mit Exportüberschüssen, noch von den Euro-Staaten mit Import-Überschüssen.
Die einen können ihre Kapazitäten auslasten, die anderen können konsumieren. Eine Win-win-Situation, solange keiner von denen, die die Zeche zahlen, bemerkt, dass er ausgenommen wird, wie eine Weihnachtsgans.
Wo seit vielen Jahren ein massiver Exportüberschuss erwirtschaftet wird, 2017 waren das rund 8 Prozent vom BIP, während die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht, sollte dem Titel "Exportweltmeister" für die Industrie, der Titel "Exportarmleuchter" für die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften gegenübergestellt werden.
Target-2-Salden sind zwar nur ein Element, nur ein Transmissionsriemen innerhalb der großen Umverteilungsmaschine, aber kein bisschen mehr "virtuell" als jedes ganz normale Girokonto bei einer ganz normalen Bank oder Sparkasse.