Hat Protektionismus auch eine gute Seite? Die Finanzmärkte ignorieren den drohenden Handelskrieg. Das Urteil der Ökonomen hinsichtlich des Nutzens oder Schadens von Protektionismus ist keinesfalls eindeutig.
Börsen-Zeitung: "Rekord trotz Handelskrieg"
Kommentar von Dieter Kuckelkorn zu den Wirkungen des Handelskriegs auf die Märkte
Der gegenwärtige Handelskrieg, so sollte man denken, kennt nur Verlierer. In der Tat haben die internationalen Aktienmärkte zuletzt spürbar an Boden verloren. Der Dax beispielsweise notiert derzeit rund 8 % unter seinem Höchststand.
Es gibt allerdings auch markante Ausnahmen: So haben Nasdaq 100 sowie Nasdaq Composite am Donnerstag Allzeithochs markiert. Der S & P 500 steht zwar unter seinem Rekordniveau von Ende Januar - aber nur um weniger als 3 %. Seit Anfang des Jahres hat er knapp 5 % hinzugewonnen, während der Dax rund 3 % und der Hang Seng China Enterprises Index (H-Share-Index) mehr als 8 % eingebüßt haben.
Wenn man die These außer Acht lässt, dass es sich hierbei um irrational bedingte Kursentwicklungen handelt, stellt sich die Frage, ob die Aktienmärkte möglicherweise die Tatsache widerspiegeln, dass es in einem Handelskrieg und der Ära eines stark zunehmenden Protektionismus nicht nur Verlierer, sondern auch Gewinner gibt.
Es fällt in diesem Zusammenhang auf, dass das Urteil der Ökonomen hinsichtlich des Nutzens oder Schadens von Protektionismus keinesfalls eindeutig ist. Ein gutes Beispiel dafür ist John Maynard Keynes. Der berühmte britische Ökonom trat 1923 noch mit flammenden Worten für den internationalen Freihandel ein, den er nicht nur als eine "Doktrin ökonomischer Vorteile", sondern auch als ein "Prinzip der internationalen Moral" sah.
In seinem 1936 veröffentlichten Hauptwerk, der General Theory, propagierte er hingegen britische Einfuhrzölle als eine gangbare Alternative zur Absenkung der Reallöhne mit dem Ziel der Steigerung der einheimischen Industrieproduktion.
Vor einer Kommission des britischen Parlaments bekannte er zwar, dass er Angst habe vor den Folgen einer langfristig protektionistischen Politik. "Wir können es uns aber nicht immer leisten, die langfristige Position einzunehmen", mahnte er damals. Hintergrund dieses überraschenden Wandels ist die Tatsache, dass die britische Industrie in den dreißiger Jahren gegenüber Konkurrenten aus den USA und Deutschland deutlich an Boden verloren hatte.
Geht man noch weiter in die Vergangenheit zurück und studiert die Ansichten der klassischen Ökonomen, so hat zwar David Ricardo mit seinem berühmten Beispiel britischer und portugiesischer Hersteller von Wein und Textilien nachzuweisen versucht, dass Freihandel allen Beteiligten Vorteile bringt.
Adam Smith hingegen vertrat die Meinung, dass im Fall von bilateralem Freihandel zwar beide Seiten profitieren, der wirtschaftlich stärkere Partner aber deutlich überproportional. Übertragen auf die gegenwärtige Realität stellt sich daher die Frage, ob die USA mit ihrem Kurswechsel hin zu einem protektionistischen Handelsregime durchaus rational handeln könnten.
So hat außerhalb des Bereichs der börsennotierten Unternehmen die Profitabilität gerade in der amerikanischen Industrie nachgelassen. Was die globale technologische Führung betrifft, so lässt sich beobachten, dass China stark aufholt.
Insofern verwundert es nicht, dass es in den amerikanisch-chinesischen Handelsgesprächen eine zentrale Position der US-Seite ist, dass Peking unbedingt sein Programm der Förderung der einheimischen Technologiebranche beenden soll. In einem ausufernden Handelskrieg könnte es im Extremfall zwar dazu kommen, dass China nicht mehr als verlängerte Werkbank amerikanischer Konzerne zur Verfügung steht.
Den großen US-Unternehmen tut es angesichts der Perspektiven stärkerer Automatisierung und der in den USA seit vielen Jahren sinkenden Reallöhne aber nicht mehr weh, die Produktion in die USA zurückzuverlegen. Die USA könnten also durchaus von einer Ära des Protektionismus profitieren, während China der Hauptverlierer sein dürfte mit seinem aktuell noch hohen Exportanteil und einer Technologiebranche, die sich erst jetzt anschickt, die Weltmärkte zu erobern.
Es lässt sich argumentieren, dass die USA derzeit noch das Potenzial haben, den Aufstieg Chinas zu behindern und zu verlangsamen - in einigen Jahren gilt das möglicherweise aber nicht mehr.
Die deutsche Industrie wäre zwar ebenfalls Leidtragende des US-Kurswechsels. Die Folgen würden aber dadurch abgemildert, dass mit der EU und China bedeutende Märkte existieren, in denen es keine oder tendenziell sinkende Zollschranken gibt. Es drängt sich somit der Verdacht auf, dass die Trump-Administration durchaus rational agiert, was die Aktienmärkte auch widerspiegeln.