Wie wahrscheinlich ist es, dass der Kreml mit der Vergiftung von Alexej Nawalny etwas zu tun hat? Der politisch-mediale Komplex inszeniert eine Vorverurteilungs-Orgie. Doch die Täter könnten von ganz anderer Seite stammen.
von Manfred Rouhs
Bereits im alten Rom war der Giftmord ein beliebtes, wenn auch nicht unbedingt als ehrbar geltendes Mittel, um unerwünschte Gegner im Ränkespiel um die Macht aus dem Weg zu räumen.
Er ebnete zudem Frauen den Weg zur gleichberechtigten Teilnahme am politischen Wettbewerb: Männer erschlugen ihre Gegner mit dem blanken Schwert. Frauen mischten heimlich den Tod unter ihre Mahlzeit oder träufelten ihn in ihren Becher. Und immer, wenn wieder einmal ein Giftopfer zu beklagen war, lautete die erste Frage: „Cui bono?“ – „Wem nützt es?“
Dann fragen wir doch mal in aller Unschuld: Wem würde ein durch Gift gemeuchelter Alexei Nawalny nützen?
Putin sicher nicht. Der legt es in diesen Tagen darauf an, in Sachen des Großprojektes Nordstream 2 den Sack zuzumachen. Es geht um den Verkauf und die Beförderung von 110 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr per Pipeline von Russland nach Deutschland.
Das ist kein Pappenstiel, sondern ein volkswirtschaftlich bedeutendes Projekt für Russen und Deutsche – sowie indirekt auch für jeden, der beim Rohstoffexport als Konkurrent Russlands am internationalen Markt auftritt. Für Putin wäre ein Scheitern dieses Projektes ein Debakel, zumal Deutsche und Russen bereits immense Geldmittel in Nordstream 2 investiert haben.
Wenn der russische Präsident ausgerechnet jetzt, wo es bei Nordstream 2 ums Ganze geht und die Frage entschieden wird, ob dieses Megaprojekt abgeschlossen oder doch noch verworfen wird, irgendetwas gar nicht brauchen kann, dann ist es ein weiterer Giftmord an einem mehr oder weniger wichtigen Kremlkritiker.
Zudem ist Alexei Nawalny aus patriotischer russischer Sicht eigentlich ein ganz passabler Kerl, wenn man mal von dessen notorischer Selbstüberschätzung absieht. Nawalny versteht sich als „nationalistischen Demokraten“ und nahm führend an mehreren Großdemonstrationen u.a. in Moskau gegen die Massenzuwanderung von Ausländern nach Russland teil.
Nach den Maßstäben des deutschen „Verfassungsschutzes“ ist er zweifellos als „Rechtsextremist“ einzustufen. Leider hat er vor etwa zehn Jahren eine größere Geldsumme unterschlagen und wurde deshalb zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.
Politisch ist er seither für die russischen Binnenentwicklung eher unwichtig. Er hatte den Zenit seiner politischen Entwicklung längst überschritten, als ein unbekannter Täter offenbar Gift in seinen Tee mischte.
Gregor Gysi, der sich Moskau seit seiner Jugend verbunden fühlt, spekuliert im Interview mit dem MDR: „Es kann ja auch sein, dass es ein Gegner der Erdgasleitung nach Deutschland war. Oder ein beauftragter Gegner, der wusste: Wenn man einen solchen Mord inszeniert, der dann der Regierung in die Schuhe geschoben wird, führt das zur Verschlechterung der Beziehungen.“
Dumm ist sie nicht, diese Bemerkung. Nawalny könnte in einem internationalen Ränkespiel um Macht und Geld zwischen die Fronten geraten sein. Und wer jetzt mit Blick auf Putin „Haltet den Dieb!“ ruft, der möge sich bitte selbst prüfen und nach alter Väter (und Mütter) Sitte fragen: „Cui bono?“