Wie konnte es so weit kommen? Die Vorgeschichte beginnt 1990 mit dem Versprechen des amerikanischen Außenministers Baker gegenüber dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow, die Nato nicht nach Osten auszudehnen.
von Klaus Peter Krause
Für regierungsfolgsame westliche Medien ist es Putin, der den Konflikt in der Ukraine suchte. So zum Beispiel der FAZ-Leitartikel „Auf Kriegskurs“ vom 22. Februar*) mit den beiden herausgehobenen Sätzen: „Putin sucht den Konflikt. Europa muss mehr für die Abschreckung tun, auch für die nukleare.“ Nein, nicht Putin sucht ihn, auf Kriegskurs sind die USA mit ihren westeuropäischen Vasallenstaaten. Zuvor hat schon ein SPD-Parteikonvent am 31. Januar erklärt „Die jetzige Eskalation geht von Putin aus.“ Aber auch das stimmt nicht, denn sie ist nur eine Folge vorangegangener westlicher Eskalationen, gerichtet gegen Russland. Damit begonnen haben die USA und die Nato. Mit dieser Klarstellung hat sich abermals der einstige Generalmajor Gerd Schultze-Rhonhof zu Wort gemeldet. Ausgelöst, was jetzt eskaliert, habe „eine nicht eingehaltene Zusage der Amerikaner und der Nato zum Verzicht auf eine Nato-Osterweiterung und das seit 2008 andauernde Drängen der USA, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Schultze-Rhonhof zeichnet die Vorgeschichte des Konflikts mit ihren Zusagen und Verträgen nach, gibt eine Lage-Beurteilung ab und rät in acht „Folgerungen“, was Deutschland jetzt tun sollte.
Die Vorgeschichte in Stichworten
Die Vorgeschichte hat Schultze-Rhonhof aufgegliedert nach einer der Nato, der Ukraine, der Sowjetunion, der USA und einer russischen. Er hat sie mit meist nur jeweils einem Satz knapp gehalten – ein Vorgeschichte in Stichworten. Sie ist daher schnell und leicht überschaubar. Aber alle diese Vorgeschichten greifen mit ihren Geschehnissen ineinander, lösen in ihrer Abfolge Aktionen und Reaktionen aus. Wohl kann man sie der Übersichtlichkeit halber getrennt darstellen, jedenfalls zunächst, aber für Russland summieren sie sich zu einer unübersehbaren westlichen Bedrohung.
Das gebrochene Versprechen der USA von 1990 gegenüber Gorbatschow
Die Vorgeschichte beginnt 1990 mit dem Versprechen des amerikanischen Außenministers Baker gegenüber dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow, die Nato nicht nach Osten auszudehnen. Nato-Generalsekretär Wörner bestätigt das im gleichen Jahr, Baker ebenso noch einmal. Bundesaußenminister Genscher wiederholt das im Beisein von Baker 1992. Der amerikanische Präsident sagt 1993, dies entspreche auch seiner Auffassung. Den Wandel in dieser amerikanischen Auffassung hat nach Schultze-Rhonhof die tschechisch geborene Außenministerin Albright 1997 eingeleitet und durchgesetzt. Das Versprechen wurde schrittweise gebrochen. Die Sowjetunion dagegen hatte 1990 und danach ihre Truppen aus allen nichtsowjetischen Gebieten abgezogen.
Polen, Ungarn und Tschechien wurden Nato-Staaten, Putin warnte vor weitere Nato-Ausdehnung
Die ersten ehemaligen Ostblock-Staaten wurden 1999 in die Nato aufgenommen. Es sind Polen, Ungarn und Tschechien. Putin reagierte mit drei Reden: 2001 im Bundestag, 2007 auf der Sicherheitskonferenz in München und 2010 auf einem Wirtschaftsforum in Berlin. Er regte zwischen der EU und Russland eine Freihandelszone an und eine stärkere wirtschaftliche Vernetzung zwischen Russland und Deutschland. 2007 in München erklärte Putin, dass für Russland eine weitere Ausdehnung der Nato nach Osten auf das ehemalige Gebiet der Sowjetunion das „Überschreiten einer roten Linie“ bedeutet.
Mit der Krim zog Russland die Reißleine
Auf dem Nato-Gipfel in Bukarest m April 2008 schlug die amerikanische Delegation vor, Georgien und die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Den Anstoß dafür hatte Präsident George W. Bush gegeben. Frankreich und Deutschland lehnten den Vorschlag ab; sie wollten das Verhältnis zu Russland nicht zerstören. Aber von 2013 an wurde die Ukraine mit Unterstützung der USA und EU aus der russischen Wirtschaftszone herausgelöst. Seitdem, so Schultze-Rhonhof, „weiß man in Moskau, dass dem langfristig die Nato und damit eine Stationierung von US-Truppen in der Ukraine folgen werden und dass damit der russische Marinestützpunkt Sewastopol im Schwarzen Meer an die Amerikaner übergehen würde. Die Russen ziehen die Reißleine und annektieren im März 2014 die Halbinsel Krim (wobei das hier gebrauchte und übliche Wort Annexion eine Gewaltanwendung beinhaltet, die hier aber nicht vorliegt. Die Übernahme der Krim durch Russland geschieht zwar gegen ukrainischen Protest, aber ohne militärische Gewalt und nach dem Willen der überwiegenden Mehrheit der Krim-Bevölkerung).“
Wie die zuvor 170 Jahre lang russische Krim 1954 zur Ukraine kam
Schon im Januar 1991 hatten die Krim-Bewohner bei einem Referendum mit 93 Prozent dafür gestimmt, die „Autonome Sowjetrepublik Krim“ als Teil der Sowjetunion wiederzubegründen. Abwegig war dieses Ergebnis nicht, denn 170 Jahre lang ist die Krim ein Teil Russland gewesen, und zwar bis 1954. Damals hatte der KPdSU-Chef Chruschtschow aus nicht ganz geklärten Gründen dafür gesorgt, dass die Krim von sofort an zur ukrainischen Sowjetrepublik gehörte (siehe hier). Doch die Ukraine kümmerte das Votum nicht. Im Februar 1991 beschloss ihr Oberster Sowjet, die Krim solle bei der Ukraine bleiben. Doch im Dezember 1994 hat Russland der Ukraine die bestehenden Grenzen garantiert, die Ukraine auf Atomwaffen verzichtet und ihre Atomwaffen an Russland abgeliefert (Memorandum von Budapest). Zwanzig Jahre nach dem Memorandum, im März 2014, sprach sich das Krim-Lokalparlament für einen Anschluss an Russland aus. Abermals in einem Referendum über den Status der Krim waren 97 Prozent für den Anschluss. 83 Prozent haben sich an der Abstimmung beteiligt. Noch im gleichen Monat März schloss Russland mit der Krim über den Anschluss einen Staatsvertrag.
Konflikt in der Ukraine, ob Bindung an die EU oder an Russland
Ende 2013 bot die EU der Ukraine einen Assoziierungsvertrag an. Der westorientierte Staatspräsident Poroschenko wollte nach dem Sturz seines Vorgängers Janukowytsch die Ukraine an die EU heranführen, aber die ostukrainischen Gebiete Oblast Donezk und Oblast Lugansk wollten an der Bindung zu Russland festhalten. Separatisten versuchten, beide Gebiete von der Ukraine zu lösen. In Donezk sind 75 Prozent der Bevölkerung russischsprachig, in Lugansk 69 Prozent. Im April 2014 erklärten sich beide Gebiete zeitlich nacheinander zu selbständigen Volksrepubliken. Seitdem herrscht dort „mit russischer und ukrainischer Einmischung“ (Schultze-Rhonhof) Bürgerkrieg.
Die beiden Vereinbarungen von Minsk 2014 und 2015
Im September 2014 kam es in Minsk zwischen Russland, Ukraine OSZE und Separatisten-Vertretern zu einer Absichtserklärung über eine Waffenruhe, einen Sonderstatus für Donezk und Lugansk und den Abzug fremder Söldner (Minsker Protokoll I). Im Februar 2015 schlossen Russland, Ukraine, Frankreich und Deutschland ein Abkommen über Deeskalation und darüber, die Minsk-I-Erklärung zu konkretisieren, darunter, ein Gesetz über den Sonderstatus von Donezk und Lugansk zu schaffen (Minsk II). Im Januar 2018 erließ die Ukraine ein „Reintegrationsgesetz“. Es untersagte den beiden Oblasten weitere Verhandlungen und bezeichnete beide als vom „Aggressorstaat Russland“ „okkupiertes Gebiet“. Der Präsident der „Volksrepublik“ Donezk, Sachartschenko, sah darin, wie Schultze-Rhonhof schreibt, ein Kriegsrecht für die abtrünnige Region und erklärte daraufhin das Minsker Abkommen für gegenstandslos. Bis heute haben ukrainische Zentralregierung und Separatisten über zwanzig Vereinbarungen zum Waffenstillstand geschlossen, erfolglose.
Die USA dehnten ihren Einfluss in der Ukraine 2014 aus
Wie Schultze-Rhonhof weiter aufzeichnet, hat der amerikanische Senat 2014 Waffenlieferungen an die Ukraine beschlossen. Im April 2014 sagte der amerikanische Vize-Präsident Joe Biden der Ukraine bei seinem Besuch dort 50 Milliarden Dollar als Kredit und Rüstungsgüter für 8 Milliarden Dollar zu. Im gleichen Jahr wurde die amerikanische Investment-Expertin Natalia Jaresko nach ihrer Spontaneinbürgerung neue ukrainische Finanzministerin. Danach, so schreibt Schultze-Rhonhof weiter, habe er in seinen handschriftlichen Notizen ohne genaue Datumsangabe noch dies gefunden: in der Ukraine 150 Soldaten der privaten Militärfirma Greystone in ukrainischen Uniformen, 400 Söldner des amerikanischen Militärdienstleisters Academy und 75 britische Militärausbilder.
2016/17 amerikanische Raketen in Polen und Rumänien stationiert
Am 3. September 2014 hat der amerikanische Präsident Obama berichtet, russische. Kampftruppen seien mit Kampfpanzern in die Ostukraine einmarschiert. Deutsche Medien haben darüber berichtet. Die OSZE hat dies berichtigt: Die derzeit eingesetzten 200 OSZE- Beobachter an der russisch-ukrainischen Grenze hätten keinerlei Bewegungen von russischen Soldaten oder Waffen an der Grenze festgestellt. Die deutschen Medien haben über diese Richtigstellung nicht berichtet. Im April 2015 wurden 300 amerikanische Fallschirmjäger für sechs Monate als Ausbilder in die Ukraine verlegt und 2016/17 amerikanische Raketen in Polen und Rumänien trotz russischen Protestes stationiert und damit in Zielnähe zu Russland gebracht. Zudem bekämpfen die USA seit 2017 bis heute: zunehmend das zukünftige Umleiten von russischem Erdgas nach Deutschland durch die Erdgasleitung North Stream II um die Ukraine herum, erhöhen aber gleichzeitig alljährlich aus Russland ihren eigenen Erdölimport.
Der Aggressor in diesem Konflikt zwischen USA und Russland ist nicht Russland
Diese von Schultze-Rhonhof aufgelisteten Tatsachen sprechen für sich. Man mag von Putin halten, was man mag, aber der Aggressor in diesem Konflikt zwischen den USA und Russland ist nicht Russland mit Putin. Schultze-Rhonhof formuliert seine bisherige Beurteilung so:
„Russland sucht Frieden und Vernetzung in Europa, hat sich aber 2014 entgegen heutiger Völkerrechtsaufassung die zu 80 Prozent russisch bevölkerte Krim einverleibt. Putin äußert, dass er die Ukraine nicht erobern will u n d dass er die Aufnahme der Ukraine in die Nato nicht dulden wird. Das ist offensichtlich das Kernproblem der augenblicklichen Ukrainekrise. Ich gehe mit Sicherheit davon aus, dass Putin mit seinem Drohaufmarsch an der ukrainischen Grenze ein Zeichen für die Ukraine und die USA setzt, dass er eine Aufnahme der Ukraine in die NAato mit Waffengewalt verhindern wird. Er wird keine weitere Osterweiterung der Nato bis an Russlands Grenze hinnehmen. Russland wird bei weiterer Ablehnung seiner Forderungen und weiteren Sanktionen durch Deutschland, die EU und die USA militärisch und wirtschaftlich eine strategische Partnerschaft mit China eingehen und ausbauen. Russland mit nur 14 Prozent vom BIP Staatsverschuldung wird Wirtschaftssanktionen und einen Waffengang um die Ukraine möglicher Weise leichter verarbeiten als die USA mit ihrem Schuldenberg von 134 Prozent vom BIP.“
Russland ist in eine Falle getrieben worden
Wie Schultze-Rhonhof die Kriegsgefahr beurteilt und in welcher Zwickmühle Deutschland steckt und was es jetzt tun sollte, entnehmen Sie bitte dem umfangreicheren Rest seines Beitrags im Wortlaut. Sie finden ihn hier. Alles in diesem Geschehen sieht danach aus, dass die USA abermals nach ihrem „bewährtem“ infamen Muster verfahren, den politischen Gegner durch viele kleine Maßnahmen in eine für ihn ausweglose Situation hineinzutreiben, die ihn dazu zwingt „den ersten Schuss“ abzugeben, und ihn als den Kriegsschuldigen hinzustellen. Wer wie Putin für das Vorrücken der Nato gegen Russland eine rote Linie gezogen hat, muss, wenn sie überschritten ist, reagieren. Russland ist in eine Falle getrieben worden. Von den zwei möglichen Reaktionen kann die eine einen weiteren Weltkrieg auslösen und die andere Russland als Großmacht entscheidend schwächen. Putin muss und möchte das eine ebenso vermeiden wie das andere. Ob es ihm gelingt, ist zu hoffen, aber fraglich.
Ergänzend möchte ich noch hinweisen auf eine anhörenswerte Ursachen- und Lagebeurteilung durch Prof. Dr. Erich Weede, der auf der Web-Seite des libertären Magazins eigentümlich frei in einem Gespräch mit dem Magazin- Herausgeber André Lichtschlag zusätzlich erhellende Gedanken beisteuert (hier). Weede ist Politikwissenschaftler, Soziologe und Psychologe von hohem Rang. (https://kpkrause.de)
*) Berthold Kohler im politischen Leitartikel vom 22. Februar 2022 auf Seite 1. Der ganze Text hier. Mit Europa ist hier aber nur die Europäische Union gemeint, denn nicht alle europäische Staaten sind EU-Mitglied, und zu Europa gehört bis zum Ural auch Russland selbst. Immer wieder setzen FAZ und andere Medien die EU unsauber mit Europa gleich.