Die Krise ist tot, es lebe die Krise! Wenn nicht alles täuscht, haben wir es gegenwärtig nicht nur mit einer heftigen Krise unserer Finanzen und unserer Wirtschaft zu tun, sondern auch mit einer Wahrnehmungskrise.
Das bedeutet: Heute passiert auf den Finanzmärkten das Gleiche, was die Jugend schon seit langem vorexerziert, denn auch hier wird heute vollgedröhnt mit Drogen die Nacht zum Tag gemacht und durchgetanzt, bis der Arzt kommt.
Auch Märkte müssen heute tanzbar sein. Und sicher bewegen kann man sich hier nur noch, wenn man bis zum Scheitel auf Drogen ist. Erst dann macht es richtig Spaß, böhmische Dörfer und Wolkenkuckucksheime zu bauen und so lange zu tanzen und auszurasten, bis man umfällt. Begonnen hat das alles mit der restlosen Abschaffung jeglicher Reglementierungen auf den Kapitalmärkten. Und dennoch: Überall wird von öffentlich Besoldeten und sonstigen Spesenrittern von der Sozialen Marktwirtschaft geredet, als ob es in den Zeiten der Globalisierung und der völlig liberalisierten Märkte so etwas noch gebe. So viel Wirklichkeitsverklärung existiert also selbst in Wirtschaftskreisen.
Nicht nur die Linke ist wirklichkeitsfremd, die Rechten und die Mitte sind erst recht Träumer.Auch heute noch orientieren wir uns an der Vorstellung des guten alten Manchester-Kapitalismus, der zwar manchmal durchaus ein böses Kind ist, im Endeffekt und in der langen Frist sich aber für uns als ein Schatz entpuppt hat, weil er uns allen einen breiten Wohlstand brachte.
Was jedoch niemandem bis heute aufgefallen ist, dass all das, was den Manchester-Kapitalismus ausmacht, heute keine Gültigkeit mehr hat. In Manchester-Zeiten lag die Aufgabe der Wirtschaft nämlich darin, einen Gütermangel zu beheben, eine nach Versorgung und Wohlstand darbende Bevölkerung zu versorgen. Das Zentrum der Wirtschaft bildete daher die Produktion (von Waren und Dienstleistungen).
Bildlich gesprochen könnte man daher auch sagen: Der gesamte Wirtschaftsprozess wurde von einem Gütervakuum angezogen oder angesogen, dass es auszufüllen galt. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Heute ist die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen zwar weiterhin ein wichtiges Element, doch es bildet nicht mehr das Gravitationszentrum des Wirtschaftsprozesses. Erneut bildlich betrachtet: Heute wird die Wirtschaft nicht mehr von einem Gütervakuum gezogen, sondern heute wird sie von einem riesigen Vermögensberg vor sich her geschoben!
Das primäre Ziel unserer Volkswirtschaften hat sich von der Güterproduktion auf die Vermögensmehrung verschoben. Damit drehen sich die Kausalitäten und Markthierarchien vollkommen um: Die Güterproduktion führt nicht mehr zur Wohlstandmehrung, sondern der Zwang zur Wohlstandsmehrung resultiert in einer erhöhten Güterproduktion. Wir werden nicht mehr von vorne gezogen, sondern von hinten geschoben. Die Finanzmärkte sind nicht mehr das passive Spiegelbild der Wirtschaft, sondern die Finanzmärkte haben sich zum Regenten aufgeschwungen und fordern in der Wirtschaft ihr Abbild.
Der altehrwürdige Manchester-Kapitalismus ist damit zur Farce verkommen, denn jetzt regiert seine verrückte Nachfolgeversion, der MADchester-Kapitalismus. An Brutalität steht das neue System dem alten dabei keinesfalls nach. In Hinsicht auf die Vernünftigkeit seiner Ergebnisse muss es jedem aufgeklärten Bürger allerdings Sorgen und Beklemmungen machen. Nicht ohne Grund nehmen die Finanzmarktkrisen mit immer schnellerer Geschwindigkeit zu. Und es ist wohl kaum noch von der Hand zu weisen, dass die Krise der Jahre 2007/2008 die erste wirkliche MADchester-Krise darstellt.
Das gesamte ökonomische Spektrum hat sich verschoben. Natürlich leiden viele Menschen auch heute noch einen großen Mangel – ganz besonders in Hinsicht auf ihre maßlosen Bedürfnisse. Aber dennoch hat sich in der Gesamtbetrachtung alles von der Knappheit auf den Überschuss hin gewandelt. Nicht nur die Waren gibt es heute überall in einem derartigen Überschuss, dass niemand sie mehr so recht absorbieren kann. Auch das Kapital ist im Überschuss vorhanden und findet kaum noch adäquate Verwendungsmöglichkeiten.
Die Zeiten des Kapitalmangels sind zwar nicht für den Einzelnen überwunden, für die Gesamtheit jedoch schon. Heute werden wir alle überrollt von einer riesigen Vermögenslawine, die Verwendung sucht, dabei jedoch alles zur Wüste macht, mit dem sie in Berührung kommt. Wenn wir nicht alle untergehen und plattgewalzt werden wollen, dann müssen wir langsam anfangen, von den Kategorien der Knappheit auf ein Denken in Überschüssen umzuschalten.
Wir müssen begreifen, dass zwar überall auf der Welt noch viel Elend und Mangel herrschen, die große Bedrohung unserer Wirtschaft und unserer Finanzen in den westlichen Industrieländern jedoch nicht in der Knappheit, sondern in einem kaum noch beherrschbaren Überschuss und Überfluss liegen. Das permanente Aufschulden und die Wechselreiterei müssen endlich aufhören. Ansonsten kann es uns vielleicht wirklich einmal den Kopf kosten.
Zum ersten Mal in der Geschichte koppelt sich ein großer Teil der Weltbevölkerung von seit Ewigkeiten geltenden Bedingungen und Verhaltensweisen ab. Auf einmal ist mager zu sein erstrebenswerter als gut genährt. Man zehrt nicht mehr von den Früchten der Vergangenheit, sondern zieht einen Wechsel auf die Zukunft. Es geht kaum noch um das Anlegen von Vorräten, sondern um die Verfügung über Geborgtes. Was man erreicht hat, schafft keine Genugtuung, sondern jeder jagt stetig weiter. Mit etwas zufrieden zu sein, gilt nichts mehr, heute muss es stets das Optimum sein. Doch das Optimum ist eine fliehende Spezies. Und diese bewegt sich in Lichtgeschwindigkeit von uns fort, sobald wir in ihre Reichweite gelangen. Und so vernichten wir unsere Grundlagen.
Es ist der Überfluss der MADchester-Realität, der uns ins Straucheln bringt. Belege dafür sieht man überall. Doch es gibt kein Umsteuern. Heute werden die Kinder immer noch auf den Mangel hin erzogen. Scheitern tun sie dann aber stets am Überfluss. Dumm wird nicht derjenige, der ausgiebig fernsieht und am Computer sitzt, sondern wer ausschließlich auf den Mangel vorbereitet ist und nicht gelernt hat, mit dem Überfluss umzugehen. Verbote und künstliche Knapphaltung führen letztlich nur dazu, die Nachholeffekte hinterher umso größer werden zu lassen. Der aufgestaute Bedarf bricht dann durch, und es kann sich keine Autonomie mehr bilden. Die Innensteuerung wird durch eine Determinierung von außen ersetzt. Und so wird dann tatsächlich beinahe das Menschenbild zur Realität, welches die Wissenschaft uns vorzeichnet.
Die junge MADchester-Generation schreibt ihren Wunsch, die Welt zu verändern, folglich in den Wind. Denn es geschieht so viel um sie herum, dass sie im Strudel der Möglichkeiten und Ereignisse versinkt, resigniert und den Dingen einfach ihren Lauf lässt. Man kann das Vorgelebte doch trefflich ausnutzen und selbst ebenfalls einen Wechsel auf die Zukunft ziehen. Wozu sich daher engagieren? Die Kreditkarten haben die Bindung des Konsums an den Vorrat und die Ersparnisse so weit entkoppelt, dass jetzt jeder in der Lage ist, sofort hemmungslos zuzugreifen. Und auf die lange Sicht sind wir ohnehin alle tot. Das ist sogar eine Ökonomenerkenntnis.
Bis in die 60er und 70er Jahre hinein lässt sich beim Shopping nur so viel kaufen, wie man Bargeld dabei hat. Diese Begrenzung fällt in den 80er Jahren. Dadurch verändert sich alles. Wer jetzt finanziell nicht in eine Schieflage geraten will, muss eiserne Disziplin an den Tag legen, muss sich Scheuklappen anlegen und seine Umwelt in weiten Teilen missachten. Die Wirtschaft wird von dem Unvermögen der breiten Massen, das umzusetzen, zwar deutlich befördert, allerdings nur so lange, wie die Mehrerlöse die Höhe der Abschreibungen auf Kreditkartenschulden übersteigen. Und das ist ein historisch sehr übersichtlicher Zeitraum.
Wir befinden uns mitten in einem Zeitenwechsel. Die große MADchester-Ambivalenz bezieht sich nicht nur auf die Zukunft, sondern ebenfalls auf die Gegenwart. In den Manchester-Jahrhunderten öffneten die Menschen ihre Türen und Tore, um alles in sich aufzusaugen. In den MADchester-Jahrzehnten hingegen muss radikal zugesperrt werden, um nicht überrollt zu werden. Nur die Kreditkartenausfälle und persönlichen Insolvenzverfahren steigen noch schneller als die Aktienkurse. Der gefräßige Drache hat seinen Schwanz bereits verspeist und langt an den eigenen Innereien an.
Die historischen Muster haben sich gewandelt und machen den Vergleich heutiger mit früheren Krisen unmöglich. Der Überfluss der MADchester-Vermögen bildet kurz- und mittelfristig einen wirksamen Puffer. Phänomene der Massenverarmung, wie es sie noch in den Krisen vor dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat, können sich im Zeitalter der Vermögenslawine nicht so schnell realisieren. Der Überschuss der Kreditbeziehungen, der sich weit über das Ausmaß der wirtschaftlichen Aktivität hinaus ausgedehnt hat, zernagt allerdings die Grundmauern dieses Puffer deutlich. Die Gefahr von Kettenreaktionen ist signifikant gewachsen. Es ist, als ob in dem Haus mit der im Fundament eingemauerten Bedienungsanleitung nun auch noch der Schwamm ausgebrochen sei.
Zwei Phänomene stehen sich hier diametral gegenüber: Auf der einen Seite sinkt die Wahrscheinlichkeit einer heftigen Wirtschaftskrise in der MADchester-Zeit drastisch ab. Auf der anderen hingegen deutet alles darauf hin, dass dann, wenn es diese Krise dennoch geben sollte, sie weit verheerendere Ausmaße annehmen könnte als in vergangenen Zeiten. Auf der einen Seite werden die Dinge also immer klarer, auf der anderen hingegen stetig unberechenbarer.
Wenn das Vermögen weit schneller wächst als die Wirtschaft, kann zwangsläufig ein immer größerer Teil des Vermögens nicht mehr durch wirtschaftliche Werte gedeckt werden. Dies ist der Schlüssel. Denn jetzt kippt die Angst vor einem Zuviel an Geld und Kredit plötzlich in ihr Gegenteil um, und auf einmal ist nicht die Quantität das Problem, sondern es zeigt sich, dass die Grundlage der Qualität bereits erodiert ist.
Der gefräßige Drache ist an seinem eigenen Herz angekommen und beißt kräftig zu. Doch alle Kreditkrisen besitzen stets einen positiven und einen negativen Aspekt. Der Erleichterung der Bereinigung steht die Bedrohung durch eine mögliche Kettenreaktion gegenüber. Der richtige Zeitpunkt des finalen Bewahrheitens der ökonomischen Logik lässt sich jedoch mit keiner Gesetzmäßigkeit dieser Welt erfassen. Die Wissenschaft ist dabei ebenso chancenlos wie jedes andere logische und verstandesmäßige Denken. Wenn überhaupt etwas zu erschließen ist, dann lässt sich das nur erfühlen.
Der Autor ist promovierter Volkswirt, Profibörsianer, Finanzkolumnist und Schriftsteller mit vielen Sachbuch- und Romanveröffentlichungen. Hier sein neuestes Werk:
MMnews empfiehlt: Der MADchester-Kapitalismus: Das Buch zur Krise.
Direktlink zu Amazon: