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Der totalitäre Wohlfahrtsstaat

"Ich behaupte, daß die öffentliche Verwaltung in sämtlichen Ländern Europas nicht nur stärker zentralisiert ist als früher, sondern sich auch inquisitorischer um die Einzelheiten des staatlichen Lebens kümmert; allenthalben dringt sie weiter als früher in das Privatleben vor"  - Alexis de Tocqueville, ca. 1840


Alexis de Tocqueville: Gleichheit und allzuständige Demokratie führen, einer inneren Dynamik folgend, zu mehr Staat und weniger Freiheit. - Wir haben nur die Wahl zwischen Gleichheit in Unfreiheit oder Ungleichheit in Freiheit.

"Ich bin der Ansicht, die Art der Unterdrückung, die den demokratischen Völkern droht, wird mit nichts, was ihr in der Welt voraufging, zu vergleichen sein; ... die alten Begriffe Despotismus und Tyrannei passen nicht."

Alexis de Tocqueville, geboren am 29. 7. 1805 in Paris, gestorben am 16. 4. 1859 in Cannes


Der klassische Liberalismus hat seit der ersten Einführung demokratischer Strukturen kritische Fragen zur Legitimation von Kollektiventscheidungen gestellt und sich bemüht, für eine Ausdehnung des Bereichs der Individualentscheidungen zu werben. Als beispielhaft für die freiheitliche Kritik an der Demokratie stellen wir hier Alexis de Tocqueville vor, der bereits in einem sehr frühen Stadium der demokratischen Entwicklung zu einem negativen Urteil kam, das bis heute gültig ist.

Tocqueville wird heute von den meisten Autoren, die über ihn schreiben, als eine Art Sozialdemokrat dargestellt, der das heraufziehende Massenzeitalter freudig begrüßte. Wir zitieren auf dieser Seite ausführlich Tocqueville, um zu zeigen, wie falsch dieses Bild ist.

Tocqueville trat 1827 als Jurist in den französischen Staatsdienst ein. Von Mai 1830 bis Juni 1831 bereiste er mit seinem Freund Gustave de Beaumont die USA, um im Auftrag der französischen Regierung das dortige Gefängniswesen zu studieren. Ihre Erkenntnisse veröffentlichten die beiden Gefährten 1833 im Buch Du Système pénitentiaire aux Etats-Unis et de son application en France. Tocquevilles Interesse ging aber weit über juristische Fragen hinaus. Sein Werk De la démocratie en Amérique erschien 1835 (1. Band) und 1840 (2. Band).

Der erste Teil seines Buches fand sofort begeisterte Zustimmung. Francois-René de Chateaubriand, mit dem Tocqueville verwandt war, und Charles-Augustin Sainte-Beuve bezeichneten den dreißigjährigen Autor als "Montesquieu des 19. Jahrhunderts". In England äußerte sich John Stuart Mill sehr positiv über die Neuerscheinung, die bereits 1836 ins Deutsche übersetzt wurde. Der zweite Band des Buches festigte den Ruf Tocquevilles als freiheitlicher Denker von Weltgeltung.

Tocqueville wurde 1841 in die Französische Akademie aufgenommen, ab 1839 gehörte er der Nationalversammlung an. In 1849 war er 5 Monate lang französischer Außenminister. Er bemerkte jedoch sehr schnell, daß es ihm in der Regierung nicht möglich war, freiheitlichen Grundsätzen treu zu bleiben. Sein Rücktritt vom Ministeramt erfolgte aus Ablehnung der "plumpen Gemeinplätze, welche die Welt bestimmen und führen... Ich bin als Denker mehr wert denn als Täter."

Tocqueville zog sich in die innere Emigration zurück und hielt sich fortan vom politischen Leben fern. Er nutzte die Zeit, um seine Erinnerungen unter dem Titel Souvenirs zu verfassen und die Arbeit an dem Werk L'Ancien Régime et la Révolution zu beginnen, dessen 1. Band 1856 erschien, dessen 2. Band aber unvollendet blieb.

 

Die folgenden Zitate stammen alle aus Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika.

Freiheit und materielle Gleichheit sind nicht miteinander vereinbar. Der klassische Liberalismus fordert die Gleichstellung aller Menschen vor dem Gesetz. Unter dieser Bedingung muß aber deren natürliche Ungleichheit in Begabung und Charakter dazu führen, daß sie in ihrer Arbeit sehr unterschiedliche Ergebnisse erzielen, die sich in ungleichen Einkommen und Vermögen äußern. Unter Voraussetzungen, die für alle gleich sind, kommt in einer freien Gesellschaft die angeborene Ungleichheit zum Ausdruck. Die juristische Gleichheit produziert materielle Ungleichheit.

Umgekehrt gilt aber auch: materielle Gleichheit erfordert juristische Ungleichheit. Durch Bevorzugung der Schwachen und Benachteiligung der Starken kann die Mehrheit in einer Demokratie mit staatlichen Zwangsmitteln die Ergebnisse des freien Spiels der Marktkräfte korrigieren, z. B. durch progressive Steuersätze. Da materielle Gleichheit sich nicht spontan einstellt und deshalb in Freiheit niemals anzutreffen ist, kann dieses Ziel nur durch Einschränkung der Freiheit erreicht werden. Je mehr Gleichheit, desto weniger Freiheit. Wir haben nur die Wahl zwischen Gleichheit in Unfreiheit oder Ungleichheit in Freiheit.

"Die geistige Ungleichheit kommt unmittelbar von Gott, und der Mensch wird nicht verhindern können, daß sie sich immer wieder einstellt."

"Was man auch tun mag, es ist unmöglich, die Bildung des Volkes über ein gewisses Niveau hinaus zu heben."

"...wir finden im menschlichen Herzen auch einen verderbten Gleichheitstrieb, der bewirkt, daß die Schwachen die Starken zu sich herunterziehen wollen und daß die Menschen die Gleichheit in der Knechtschaft der Ungleichheit in der Freiheit vorziehen."

"Der Haß der Menschen gegen das Privileg wird um so größer, je seltener und unbedeutender die Privilegien werden, so daß man zu sagen versucht ist: die demokratischen Leidenschaften entbrennen in den Zeiten besonders heftig, in denen sie am wenigsten Nahrung finden. ... Sind alle gesellschaftlichen Bedingungen ungleich, so verletzt keine noch so große Ungleichheit den Blick des Betrachters; inmitten allseitiger Gleichförmigkeit dagegen wirkt die kleinste Verschiedenheit anstößig; der Anblick wird um so unerträglicher, je weiter die Gleichförmigkeit fortgeschritten ist. Es ist daher ganz natürlich, daß die Gleichheitsliebe zusammen mit der Gleichheit wächst; man nährt sie, indem man sie befriedigt."

"Dieser unauslöschliche und immer flammendere Haß der demokratischen Völker gegen die geringsten Vorrechte begünstigt die schrittweise Konzentration aller politischen Rechte in den Händen der einzigen Staatsgewalt außerordentlich. Der Souverän, notwendig und unangefochten allen Bürgern übergeordnet, erregt niemandes Neid, und jeder meint, seinesgleichen alle die Vorrechte zu entreißen, die er dem Souverän zugesteht."

"Ich bin überzeugt, daß es leichter ist, eine absolute und despotische Regierung in einem Volk zu errichten, in dem die gesellschaftlichen Bedingungen gleich sind, als in einem anderen, und ich glaube, eine derartige Regierung würde - einmal in einem solchen Volk errichtet - die Menschen nicht nur unterdrücken, sondern auf die Dauer jedem einige der wesentlichen Attribute der Menschheit entreißen."


Politisch verordnete Gleichheit nivelliert, ebnet ein, uniformiert die Menschen, erzwingt ihre Konformität mit einer von außen gesetzten Norm. Ohne politische Eingriffe bilden sich spontan verschiedenartige Gruppen, gemäß der unterschiedlichen Natur der Menschen. Diese Klassen im Namen der Gleichheit politisch zu unterdrücken bedeutet, den Menschen die Freiheit des Ausdrucks ihrer jeweiligen Persönlichkeit zu nehmen.

"Sind die Bürger in Kasten und Klassen geteilt, so sind sie einander nicht nur unähnlich, sie haben nicht einmal die Neigung oder das Bedürfnis, sich einander anzugleichen; im Gegenteil: jeder sucht immer mehr seine eigenen Anschauungen und Gewohnheiten unversehrt zu erhalten und ganz er selbst zu bleiben. Der Individualismus ist sehr ausgeprägt.
Hat ein Volk eine demokratische Gesellschaftsordnung, d. h. kennt es keine Kasten oder Klassen, und sind seine Bürger einander an Bildung und Vermögen etwa gleich, so nimmt der menschliche Geist eine andere Richtung. Die Menschen sind einander gleich, ja mehr noch, sie leiden irgendwie darunter, einander nicht gleich zu sein. Fern davon, bewahren zu wollen, was den Einzelnen noch auszeichnen könnte, wünschen sie es zu verlieren, um in der großen Masse aufzugehen, die in ihren Augen allein das Recht und die Macht repräsentiert. Der Individualismus ist nahezu ausgetilgt."

"In den aristokratischen Zeiten sind sogar die, die sich von Natur gleichen, bestrebt, vermeintliche Unterschiede zwischen sich festzustellen. In den demokratischen Zeiten begehren sogar die, die sich von Natur nicht gleichen, gleich zu werden und ahmen einander nach..."

"Ich lasse meine Blicke über die zahllose Menge gleicher Wesen schweifen, wo nichts sich erhebt, nichts sich senkt. Das Schauspiel dieser universellen Einförmigkeit stimmt mich traurig und kalt, und ich fühle mich versucht, die Gesellschaft zu betrauern, die nicht mehr ist."


Wahlen haben in der Demokratie nahezu sakralen Charakter, sie legitimieren beliebige Handlungen der Regierung. Doch wie rational sind die Entscheidungen der Wähler? Was wird ihnen zur Entscheidung vorgelegt? Welche Fragen kommen überhaupt ins Blickfeld der Wähler? Eine Wahl wirft nicht nur intellektuelle Probleme auf, sie stellt auch ethische Fragen. Lassen sich die Ergebnisse einer Wahl moralisch rechtfertigen, wenn die Mehrheit der Wähler eine Neidgenossenschaft bildet? Kann die Mehrheit der Versuchung widerstehen, sich auf Kosten der Minderheit Vorteile zu verschaffen?

Wer wird im demokratischen Prozeß für Führungsämter ausgewählt? Kommen fachlich kompetente und moralisch vertrauenswürdige Persönlichkeiten an die Macht oder findet systembedingt eine negative Auslese statt? Kann man von den Wählern erwarten, daß sie kurzfristig Verzicht leisten, um langfristige Vorteile zu erreichen?

"In Europa glauben viele Leute, ohne es zu sagen, oder sagen, ohne es zu glauben, einer der großen Vorteile der allgemeinen Wahl sei, daß sie zur Leitung der Staatsgeschäfte Menschen berufe, die des öffentlichen Vertrauens würdig seien. Das Volk - so sagt man - kann sich nicht selbst regieren, aber es wünscht allezeit aufrichtig das Wohl des Staates, und sein Instinkt verfehlt kaum, ihm die zu bezeichnen, die der gleiche Wunsch beseelt und die am geeignetsten sind, die Macht innezuhaben."

"Welch langes Studium, welche Fülle von Kenntnissen ist erforderlich, um sich eine genaue Vorstellung vom Charakter auch nur eines Menschen zu verschaffen! Die größten Geister versagen hier zuweilen, und die Menge sollte mehr Erfolg haben?"

 

Tocqueville weist darauf hin, "daß die Scharlatane aller Sorten sich so gut auf die Kunst verstehen, dem Volk zu gefallen, seine wirklichen Freunde bei ihm dagegen meistens durchfallen."

"Man darf sich nichts darüber vormachen, daß die demokratischen Institutionen den Neid im menschlichen Herzen sehr stark entwickeln helfen... Die demokratischen Institutionen rufen den Gleichheitstrieb wach und schmeicheln ihm, ohne ihn doch jemals befriedigen zu können."

"Viele Leute bilden sich ein, diese geheime Neigung der unteren Klassen, die oberen von der Leitung der Staatsgeschäfte möglichst auszuschließen, sei nur in Frankreich wahrzunehmen; das ist ein Irrtum: diese Neigung ist keineswegs französisch, sie ist demokratisch."

"Während die natürlichen Neigungen der Demokratie das Volk dazu bringen, die bedeutenden Männer von der Macht auszuschließen, veranlaßt eine nicht minder starke Neigung diese Männer, sich der politischen Laufbahn fernzuhalten, in der es so schwer ist, man selbst zu bleiben und voranzukommen, ohne sich billig zu machen."

"Das Volk, umgeben von Schmeichlern, überwindet sich selbst nicht leicht. Wenn man von ihm erreichen will, daß es sich ein Opfer oder eine Beschränkung auferlegt, weigert es sich zunächst fast immer, selbst dann, wenn seine Vernunft den Zweck billigt."


Kann man hoffen, daß die Mängel der repräsentativen Demokratie, in der Parlamentarier das Volk vertreten, durch eine direkte Demokratie, in der das Volk in Volksbefragungen und -abstimmungen selbst entscheidet, beseitigt werden könnten? Diese Hoffnung ist unbegründet, denn die zahlenmäßig kleine Masse einer Parlamentsversammlung unterscheidet sich qualitativ nicht von größeren Massen. Auch ein Plebiszit produziert eine siegreiche Mehrheit und eine besiegte Minderheit, die fremdbestimmt wird.

Für die in Minderheit geratenen Bürger spielt es keine Rolle, ob ein absolutistischer König, die Mehrheit eines Parlaments oder einer Volksabstimmung ihnen etwas aufzwingen. Die Liberalen haben nicht die Fürsten bekämpft, um deren Macht durch die Herrschaft einer beliebigen Majorität zu ersetzen. Ein Diktat wird nicht dadurch erträglicher, daß es von vielen Menschen ausgeübt wird.

"Wenn die demokratischen Völker an die Stelle aller verschiedenen Mächte, die den Aufschwung der individuellen Vernunft außerordentlich hinderten und verzögerten, die absolute Macht einer Mehrheit stellen würden, so hätte das Übel nur ein anderes Aussehen bekommen; die Menschen hätten nicht das Mittel für ein unabhängiges Leben gefunden, sie hätten nur...eine neue Abart der Knechtschaft entdeckt. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: hier ist ein tiefes Problem für die, welche die Geistesfreiheit für etwas Heiliges halten und nicht nur den Despoten hassen, sondern auch den Despotismus. Wenn ich die Hand der Macht auf meinem Haupte lasten fühle, kümmert es mich persönlich wenig, zu wissen, wer mich unterdrückt; und ich beuge mich nicht deswegen lieber unter das Joch, weil eine Million Arme es mir darbieten."


Es ist nicht zu erwarten, daß die Wähler sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Fremdbestimmung ziehen. Der entmündigte Bürger, dem man nicht zutraut, im täglichen Leben vernünftig zu entscheiden, soll bei Wahlen all die intellektuellen und moralischen Fähigkeiten haben, die man ihm sonst abspricht. Für einen Augenblick der Stimmabgabe soll aus dem Objekt der Politik, das weitgehend verwaltet und fremdgesteuert wird, plötzlich ein rationales und selbständiges Subjekt der Politik werden. Es ist völlig unrealistisch, eine derartige wundersame Metamorphose zu unterstellen und es ist zynisch, am Tag nach der Wahl den angeblichen Souverän wieder in ein Mündel zu verwandeln.

Unter diesen Umständen können Wahlen nur die Funktion haben, der jeweils siegreichen Parteioligarchie eine Blankovollmacht für die nächste Wahlperiode zu verschaffen.

"Wie soll man die Menge, die nicht gelernt hat, sich der Freiheit im Kleinen zu bedienen, dazu bringen, sie im Großen zu ertragen?"

"Wie soll man der Tyrannei in einem Land widerstehen, wo jeder schwach ist und wo die Menschen durch kein gemeinsames Interesse geeint sind?"

"Es ist wirklich schwer einzusehen, wie Menschen, die der Gewohnheit, sich selbst zu regieren, vollständig entsagt haben, imstande sein könnten, diejenigen gut auszuwählen, die sie regieren sollen; und man wird niemanden glauben machen, eine freiheitliche, tatkräftige und weise Regierung könne jemals aus den Stimmen eines Volkes von Knechten hervorgehen."

"Unsere Zeitgenossen ... trösten sich über die Vormundschaft in dem Gedanken, daß sie selbst ihren Vormund gewählt haben. Jeder Einzelne läßt sich willig fesseln, weil er sieht, weder ein Mann noch eine Klasse, sondern das Volk selbst hält das Ende der Kette."

"Diese Unfreiheit in den unbedeutenden Geschäften zeigt sich jeden Tag und macht sich unterschiedslos bei allen Bürgern fühlbar. Sie bringt sie zwar nicht zur Verzweiflung; aber sie bedrängt sie unaufhörlich und bringt sie dahin, auf den Gebrauch ihres Willens zu verzichten. ... Umsonst wird man diese Bürger, die man von der Zentralgewalt so abhängig gemacht hat, von Zeit zu Zeit die Vertreter dieser Gewalt wählen lassen; dieser so wichtige, aber so kurze und seltene Gebrauch ihres freien Willens wird es nicht verhindern, daß sie nach und nach die Fähigkeit einbüßen, selbständig zu denken, zu fühlen und zu handeln, nicht verhindern, daß sie so allmählich unter das Niveau der Menschheit absinken."


Die Hauptbetätigung der am politischen Prozeß Beteiligten ist der Verteilungskampf. Wer hierbei Erfolg haben will, muß einer möglichst starken Gruppe angehören. In der Politik ist der Einzelne nichts, die Gruppe alles. Hieraus ergibt sich ein starker Anreiz zur Massenbildung. Es gilt: "gemeinsam sind wir stark", aber auch: "allein bin ich schwach". Die Demokratie schafft ein Milieu, das den Kollektivismus begünstigt, den Individualismus aber hemmt und schwächt.

Je straffer Massenbewegungen organisiert sind, desto größer ist ihr Erfolg. In der soziokulturellen Evolution dieser Organisationen setzen sich jene durch, die besonders kollektivistisch sind. Im politischen Kampf überleben nur jene Gruppen, die bei ihren Mitgliedern die Regression in atavistische Verhaltensweisen fördern. Nicht mehr Eigenständigkeit und kritisches Denken sind gefragt, sondern Einordnung in die Gruppe und Unterordnung. Das von Gustave Le Bon entdeckte Gesetz der geistigen Einheit von Massen wirkt dann nicht nur in den Interessenverbänden, sondern in der gesamten Gesellschaft, die sich entindividualisiert und Massencharakter annimmt. Der innengeleitete Mensch, der sich seine Werte und Ziele selbst setzt, wird unter diesen Bedingungen abgelöst durch den außengeleiteten Menschen, der sich an den jeweils vorherrschenden Mehrheiten orientiert.

 

Im letzten Zitat dieses Abschnitts gibt Tocqueville eine sehr genaue Beschreibung der Ausgrenzung, mit der in demokratischen Gesellschaften der Bruch der geistigen Einheit geahndet wird. Wir alle werden täglich Zeuge, wie Abweichler zu Unberührbaren gemacht werden, siehe z. B. die revisionistischen Historiker oder bestimmte Sekten, aber wie viele von uns wagen es, für die Meinungsäußerungsfreiheit dieser Minderheiten einzutreten?

 

"Die öffentliche Meinung ist nicht nur die einzige Führerin, die der individuellen Vernunft bei demokratischen Völkern bleibt, ihre Macht ist überhaupt bei diesen Völkern unendlich viel größer als bei irgendeinem anderen Volk. ... Es erscheint ihnen nämlich nicht wahrscheinlich, daß die Wahrheit sich nicht auf seiten der größten Zahl befinde, da sie alle gleich aufgeklärt sind."

"...welches auch immer die politischen Gesetze sein mögen, die die Menschen in demokratischen Jahrhunderten beherrschen, man kann voraussehen, daß der Glaube an die öffentliche Meinung eine Art Religion, deren Prophet aber die Majorität sein wird."

"Bei den demokratischen Völkern ... erscheint die öffentliche Gunst ebenso nötig wie die Luft, die man atmet, und mit der Masse nicht im Einklang sein, heißt sozusagen nicht leben. Diese braucht nicht die Gesetze anzuwenden, um die Andersdenkenden zu beugen. Die Mißbilligung genügt. Das Gefühl ihrer Vereinsamung und ihrer Ohnmacht übermannt sie alsbald und raubt ihnen jede Hoffnung."

"Die demokratischen Republiken legen den Höflingsgeist der großen Menge nahe und lassen ihn zugleich in alle Klassen eindringen. ... Das gilt besonders für die demokratischen Staaten, ... in denen die Mehrheit so unbeschränkt und unwiderstehlich herrscht, daß man gewissermaßen auf seine Bürgerrechte, ja sozusagen auf seine Menschenqualität verzichten muß, will man sich dort von dem Weg entfernen, den die Mehrheit vorgezeichnet hat."

"In Amerika zieht die Mehrheit einen drohenden Kreis um das Denken. Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei; aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt! ... Der Machthaber sagt hier nicht mehr: 'Du denkst wie ich, oder du stirbst'; er sagt: 'Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten; aber von dem Tag an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird dir nicht mehr nützen; denn wenn du von deinen Mitbürgern gewählt werden willst, werden sie dir ihre Stimme verweigern, ja, wenn du nur ihre Achtung begehrst, werden sie so tun, als versagten sie sie dir. Du wirst weiter bei den Menschen wohnen, aber deine Rechte auf menschlichen Umgang verlieren. Wenn du dich einem unter deinesgleichen nähern wirst, so wird er dich fliehen wie einen Aussätzigen; und selbst wer an deine Unschuld glaubt, wird dich verlassen, sonst meidet man auch ihn. Gehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, aber es ist schlimmer als der Tod.'"


Da, wo der Individualismus geschwächt und zurückgedrängt wurde, gibt es keinen ernstzunehmenden Widerstand gegen den Allmachtsanspruch der Politiker.

"Ich hege keinen Zweifel, daß es den Herrschern in Zeiten der Aufklärung und der Gleichheit - wie den unsrigen - viel leichter fallen wird, die gesamte öffentliche Gewalt in ihrer Hand zu vereinigen und beständiger und tiefer in den Kreis der privaten Interessen einzudringen, als irgendein Herrscher der Antike das jemals vermochte."

"Ich behaupte, daß die öffentliche Verwaltung in sämtlichen Ländern Europas nicht nur stärker zentralisiert ist als früher, sondern sich auch inquisitorischer um die Einzelheiten des staatlichen Lebens kümmert; allenthalben dringt sie weiter als früher in das Privatleben vor; immer mehr, immer unbedeutendere Vorgänge regelt sie auf ihre Weise, und sie breitet sich mit jedem Tag mehr aus, neben dem Einzelnen, um ihn herum und über ihm, um ihm beizustehen, ihn zu beraten und zu vergewaltigen."

"Es leuchtet ein, daß die Zentralisierung der Regierung eine gewaltige Macht erhält, wenn sie sich mit der Verwaltungszentralisierung verbindet. Solcherweise gewöhnt sie die Menschen daran, von ihrem Willen vollkommen und beständig abzusehen; ... sie packt sie außerdem bei ihren Gewohnheiten; sie gibt sie der Vereinzelung preis und bemächtigt sich daraufhin jedes Einzelnen in der allgemeinen Masse."

"Die Einzelnen sehen ihrerseits die staatliche Gewalt mehr und mehr im gleichen Lichte; sie rufen sie in allen ihren Nöten zu Hilfe und richten ihre Blicke allezeit auf sie als auf einen Schulmeister oder Lotsen."

"Bei den meisten Völkern unserer Tage ist die Erziehung wie die Wohltätigkeit Aufgabe des Staates geworden. Der Staat empfängt, ja reißt oft das Kind aus den Armen seiner Mutter, um es seinen Dienern anzuvertrauen; der Staat übernimmt es, jeder neuen Generation Gefühle einzuflößen und Vorstellungen zu vermitteln. Die Gleichförmigkeit herrscht in den Studien wie überall sonst; die Mannigfaltigkeit verschwindet wie die Freiheit auch aus ihnen immer mehr."

"In Europa halten sich die Parteien gewissermaßen für den gesetzgebenden und vollziehenden Vormund der Nation, die ihre Stimme nicht selbst erheben kann; von dieser Vorstellung aus handeln und befehlen sie."


Gleichheit und allzuständige Demokratie führen, einer inneren Dynamik folgend, zu mehr Staat und weniger Freiheit. Dieser Trend, den bereits Tocqueville beobachtet hat, ist bis heute ungebrochen. Das Endstadium in der Entwicklung des Wohlfahrtsstaats ist der Ameisenstaat. Es ist der von Tocqueville im nächsten Zitat so ironisch beschriebene rundumversorgte egalitäre Gutmensch, der danach verlangt.

"Wenn ich die kleinen Leidenschaften der heutigen Menschen bedenke, die Schlaffheit ihrer Sitten, die Weite ihrer Bildung, die Reinheit ihrer Religion, die Milde ihrer Moral, ihre arbeitsamen und geordneten Gewohnheiten, die Zurückhaltung, die sie fast sämtlich im Laster wie in der Tugend beobachten, dann fürchte ich, sie könnten zum Staatsoberhaupt eher einen Vormund haben als einen Tyrannen."

"Ich bin der Ansicht, die Art der Unterdrückung, die den demokratischen Völkern droht, wird mit nichts, was ihr in der Welt voraufging, zu vergleichen sein; ... die alten Begriffe Despotismus und Tyrannei passen nicht."

Im folgenden Zitat zeigt Tocqueville, welche Zukunft uns erwartet, wenn es nicht gelingt, den freiheitsfeindlichen Tendenzen der Demokratie Einhalt zu gebieten. Wir sind auf dem Weg in diese schöne soziale Welt bereits ein großes Stück vorangekommen.

"Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selbst drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihr Herz ausfüllen. ... Über diesen Bürgern erhebt sich eine gewaltige Vormundschaftsgewalt, die es allein übernimmt, ihr Behagen sicherzustellen und über ihr Schicksal zu wachen. Sie ist absolut, ins einzelne gehend, pünktlich, vorausschauend und milde. Sie würde der väterlichen Gewalt gleichen, hätte sie - wie diese - die Vorbereitung der Menschen auf das Mannesalter zum Ziel; sie sucht aber, im Gegenteil, die Menschen unwiderruflich in der Kindheit festzuhalten...

Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens immer überflüssiger und seltener, beschränkt die Willensbetätigung auf ein immer kleineres Feld und entwöhnt jeden Bürger allmählich der freien Selbstbestimmung. Auf all das hat die Gleichheit die Menschen vorbereitet: hat sie bereit gemacht, es zu erdulden, ja es häufig sogar für eine Wohltat zu halten.

So breitet der Souverän, nachdem er jeden Einzelnen der Reihe nach in seine gewaltigen Hände genommen und nach Belieben umgestaltet hat, seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz kleiner, verwickelter, enger und einheitlicher Regeln...; er bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, steht vielmehr ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt jede Nation schließlich dahin, daß sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist, deren Hirte die Regierung.

Ich bin immer der Überzeugung gewesen, daß diese Art einer geregelten, milden und friedlichen Knechtschaft, die ich eben gezeichnet habe, sich mit einigen der äußeren Formen der Freiheit besser verbinden könnte, als man denkt, und daß es ihr nicht unmöglich wäre, sich sogar im Schatten der Volkssouveränität niederzulassen."

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