Nach zwei Stunden Urlaub mit geschlossenen Augen bei REWE, wache ich an der Kasse wieder auf, die angezeigte Summe gibt mir einen Ruck als ob eine Kokosnuss mich getroffen hätte.
von Meinrad Müller
Wohin ich im Leben nie käme, schon gar nicht in der jetzigen Lockdownzeit, das liegt mit etwas Fantasie direkt vor der Haustüre bzw. nach der Eingangstüre meines Supermarktes. Er ist nicht sonderlich groß, doch um mich in eine träumende Welt zu begleiten genügt er allemal.
Der nach Personenzahl begrenzte Zutritt zur Traumwelt wird von einem aus einem Urlaubsland stammenden braungebrannten Türsteher gnädigst gewährt.
Links nach dem Eingang, vorbei an Rosen aus Amsterdam, die in Wahrheit kenianische Wurzeln haben, türmen sich pyramidenförmige Berge von Früchten aus aller Herren Länder. Vorgereifte Avocados aus Peru, ich schließe kurz die Augen und sehe riesige Plantagen unter südlicher Sonne, in welcher mit Sombreros behütete Ureinwohner mit geflochtenen Körben emsig am Pflücken sind. „Darf ich hier durch“, ein Einkaufswagen nebst Schiebendem weckt mich aus meinen Gedanken, einen Schritt zur Seite, halte eine stachelige Ananas in der Hand, rieche mit geschlossenen Augen an diesem exotischen Geschöpf.
Ich wähne mich dabei auf einer sonnigen und endlosen, am Strand gelegenen Farm in Costa Rica. Mir träumt, wie Landarbeiter Feierabends eine kühle Bowle mit Ananasstücken unter dem Vordach eines Saloons genießen. Daneben springen mich knallgelbe Bananen an und schon hüpft meine Fantasie nach Ecuador, ich tauche ein in den grünen und endlosen Blätterwald mit Bananenstauden, höre buntes Vogelgezwitscher und stehe dabei weiteren Kunden im Wege.
Zwei dieser stämmigen Bananenpflanzen kenne ich aus dem botanischen Garten, doch in meinen Träumen im Supermarkt spüre ich mich von Tausenden im warmen Wind wogend umgeben.
Sizilien! Vor zwanzig Jahren im Orangen- und Zitronenhain, es duftete wie in einer Parfümerie, sehe die akrobatisch beweglichen Pflücker auf ihren dürren Leitern, sie drehen die Früchte von den Ästen und stecken diese in um Schultern geschwungene Tücher. Sie wischen die Tropfen von der Stirn und singen im Chor temperamentvolle lustige Liedchen. Und hier, genau vor mir, ein Berg duftender Zitronen und Orangen! Ich beuge mich tiefer und lasse dieses Spiel der Natur auf mich wirken. „Bleiben sie hier stehen?“, raunzt ein anderer Konsument, der in emsiger Einkaufseile meine Träume nicht miterlebt.
Auf nach Appenzell, diese herrlichen Berge mit Tausenden von mit güldenen Glocken behangenen lila Kühen auf saftigen grünen Almen! Würzig riecht der Bergkäse im Regal scheinbar durch die einhüllende Folie hindurch, ich atme tief ein, das Bergpanorama entfaltet sich vor meinem geistigen Auge, ich halte mich spontan am Einkaufswagen fest, um nicht vom Gipfel des Säntis Richtung Bodensee zu kippen.
Ganz anders wars in Irland: Oberhalb der Felsenküste baumelten die langen Ohren der Milchkühe im kräftigen Westwind wie Socken auf der Leine. Das grüne Gras und der glückliche vierblättrige Klee waren Gott sei Dank auf der Wiese angewachsen und wanderte Biss für Biss in die genüsslich grasenden, schwarz-weiß gefleckten Rinder.
Diese Reise wurde desto blumiger, als ich mich gleichzeitig an eine vor dem Landausflug erfolgte Verköstigung des weltberühmten irischen, güldenen und hochprozentigen „Landweins“ erinnere. Dieser wird in Ermangelung von Weintrauben aus Gerste destilliert. Doch der steht in einem anderen Regal. Nehmen wir fürs Erste eine irische Landbutter, damit der zarte Roquefortkäse aus französischen Landen nicht so einsam auf dem Dolomiten-steinharten Südtiroler Schüttelbrot zu liegen kommt.
Spanische dunkle Eichenwälder, zu deren Füßen fast wilde Schweine sich von Eicheln ernähren, müssen selten und deswegen teuer sein, was sich am Preisschild des Schinkens zeigt. Doch was solls, dorthin fliegen, das gönnt man uns derzeit nicht. Folglich fantasieren wir uns mit jedem Bissen gaumenfroh in dieses Kernland der Kulinarik, dazu einen edlen Tapas-Wein, dessen Schwere uns wie die imaginär brütende Sonne zu einer Siesta zwingt.
Es sei denn, wir brühen uns einen starken Kaffee, aus den steilen Höhen Äthiopiens stammend, der unseren Pulsschlag über Gebühr erhöht. Dem abzuhelfen rührten wir uns einen schönen Kakao aus dem Lande Elfenbeinküste, verfeinerten diesen mit etwas Sahne aus Holland – jetzt muss ich schließen, mir wird’s schon schwindelig. Ach, dann gehe ich noch gleich in die Apotheke nebenan, dort gibt es sicher auch ein Elixier von Doktor Eisenbart gegen Fernweh. Oder zumindest ein solches, das nach tröstendem Genuss irischen „Landweins“ hilfreich ist.
Nach zwei Stunden Urlaub mit geschlossenen Augen bei REWE, wache ich an der Kasse wieder auf, die angezeigte Summe gibt mir einen Ruck als ob eine Kokosnuss mich getroffen hätte, der nur mit einer Dosis Sliwowitz getröstet werden könne, doch ausgerechnet dieses kroatische Wundertröpfchen habe ich vergessen. Dann komme ich einfach morgen nochmals und traumurlaube weiter.