Die dramatische Einschätzung zeigt, dass das Gefahrenpotenzial des russisch-ukrainischen Gasstreits größer ist, als die Kommission und die Regierungen öffentlich einräumen. Der Staatsmonopolist Gazprom liefert aufgrund eines Schulden- und Preisstreits mit der Ukraine seit der Nacht auf Mittwoch kein Gas mehr an das Nachbarland. Davon sind auch viele EU-Staaten massiv betroffen, da 80 Prozent des russischen Gases für die Gemeinschaft durch die Ukraine fließen. Ein Zusammenbruch des Gasliefersystems in diesem wichtigsten Transitstaat würde die Energieversorgungssicherheit Europas grundsätzlich infrage stellen.
Bulgarien, Ungarn, die Slowakei und Polen haben wegen akuter Versorgungsengpässe bereits den Notstand ausgerufen. Zehntausende Menschen frieren dort in kalten Wohnungen. In Deutschland, Frankreich und den meisten anderen westeuropäischen Staaten gibt es derzeit noch keine Versorgungsengpässe.
Offiziell halten sich die Europäer mit einseitigen Schuldzuweisungen an Russland oder die Ukraine bislang zurück. Doch intern geht die Kommission FTD-Informationen zufolge seit Gazproms totalem Lieferstopp an die Ukraine davon aus, dass Russland damit eindeutig seine vertraglichen Pflichten gegenüber den EU-Staaten verletzt hat. Außerdem sieht die Behörde Verdachtsmomente für eine lange vorbereitete Aktion Russlands, da bereits im Dezember Gazprom-Vertreter durch EU-Hauptstädte gereist seien, um auf die jetzige Krise vorzubereiten.
Energieexperten fürchten, dass die Lieferausfälle selbst dann erst in etwa einer Woche enden können, wenn Russland heute wieder Gas in die ukrainischen Pipelines pumpt. Probleme könnten bei den Verdichtungsstationen entstehen, die den zum Gastransport notwendigen Druck aufbauen. Um die Turbinen dieser Stationen betriebsbereit zu halten, müssten diese vorgewärmt werden. Das dafür oft eingesetzte Erdgas fehle jetzt. Nach einem Wiedereinsetzen der Gasversorgung müssten die abgekühlten Anlagen langsam wieder auf Temperatur gebracht werden, um Schäden zu vermeiden. Allerdings könnte das marode ukrainische Pipelinenetz durch den Lieferstopp auch größere Schäden erlitten haben.