Der Aufstieg des neoliberalen, durch die Dominanz der Finanzmärkte geprägten Weltwirtschaftssystems – dessen Finanzüberbau gerade über uns zusammenbricht – resultierte aus der tiefgreifenden ökonomischen Krise der frühen 70er Jahre, die nahezu alle westlichen Industrieländer erfaßt hatte. Diese Krise beendete eine seit den frühen Fünfzigern anhaltende Periode wirtschaftlicher Prosperität. Die führenden westlichen Wirtschaftsnationen verbuchten zwischen 1950 und 1970 ein rasantes ökonomisches Wachstum, das wesentlich zur Vollbeschäftigung, ja zum Arbeitskräftemangel in etlichen Industrieländern beitrug.
Dieses »Goldene Zeitalter« (Hobsbawm) des Kapitalismus fußte auf einer »inneren Kapitalexpansion« in den avancierten kapitalistischen Ökonomien, innerhalb derer zuvor ausgeklammerte Gesellschafts- und Lebensbereiche für die Kapitalverwertung erschlossen wurden. Durch die stürmisch voranschreitende wissenschaftlich-technische Entwicklung der Produktionsmittel boomten zwischen 1950 und 1970 beispielsweise die Haushaltsgeräteindustrie, die Nahrungsmittelkonzerne, die Unterhaltungselektronik und der zivile Flugzeugbau. Zudem erlebten die ersten Einzelhandelskonzerne und der Massentourismus ihren wirtschaftlichen Durchbruch. Neue Werkstoffe wie Kunstfasern oder Plastik führten zu einer weiteren Umwälzung bereits etablierter Industriezweige.
Im Zentrum dieses langanhaltenden, stürmischen Wachstums stand die Massenmotorisierung. Von der Autobranche ging der größte Impuls für die Massenbeschäftigung bis in die 70er aus. Das vorherrschende Produktionsprinzip bei den Fahrzeugherstellern wie auch in vielen anderen Gewerbezweigen war der Fordismus: Mittels Fließbandproduktion und unter intensivem Einsatz von Arbeitskraft und Maschinen wurden Massengüter hergestellt, die – dank relativ hoher Löhne – in ihren Produzenten zugleich ihre Konsumenten fanden. Begleitet wurde diese Expansionsbewegung des Industriekapitals auf den sich neu formierenden Märkten von der – zur Zeit eine scheinbare Renaissance feiernden – keynesianistischen Wirtschaftspolitik. Im Kern handelte es sich hierbei um einen nachfrageorientierten Politikansatz, der dafür Sorge zu tragen hatte, daß die massenhaft hergestellten Güter auch auf eine massenhafte kaufkräftige (staatliche wie private) Nachfrage trafen.
Tendenzieller Fall der Profitrate
Für die nahezu alle westlichen Industrieländer spätestens seit 1973 erfassenden wirtschaftlichen Verwerfungen etablierte sich der Begriff der Stagflation – einer überhandnehmenden Inflation, die mit einer stagnierenden Ökonomie einherging. Die besagte Phase der »inneren Expansion« war ab den 70er Jahren abgeschlossen, so daß sich das rasante Wirtschaftswachstum des »Goldenen Zeitalters« angesichts erschlossener Märkte erschöpfte. Zudem erwies sich der immer enger mit der Industrie verzahnte wissenschaftlich-technische Fortschritt der Produktionsmittel als ein zweischneidiges Schwert: Konnten Produktivitätssteigerungen und neue Technologien bis in die 70er Jahre zur Erschließung neuartiger Märkte beitragen und immer mehr Arbeitsplätze schaffen, als durch Rationalisierungen in älteren Industrien wegfielen, so kippte diese Entwicklung ab 1973.
Ab diesen Zeitpunkt – dem letzten Jahr mit Vollbeschäftigung innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – kehrte die seit Jahrzehnten nicht mehr in den Industrieländern gekannte Massenarbeitslosigkeit zurück. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führte dazu, daß immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden konnten. Neue Industriezweige wie die Mikroelektronik und die Informationstechnik beschleunigten diese Tendenz in den kommenden Dekaden noch weiter, da die neuen Technologien weitaus weniger Arbeitsplätze schufen, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurden.
Da im Produktionsprozeßverausgabte Lohnarbeit (variables Kapital) die Quelle des Mehrwertsbildet, geht diese »Erhöhung der organischen Zusammensetzungdes Kapitals« (Marx) bei gleichbleibenden Aufwendungen fürdas besagte variable Kapital mit einem Fall der Profitrate einher. Der(nun geschrumpfte) Anteil des variablen Kapitals innerhalb desProduktionsprozesses teilt sich bekanntlich in notwendige Arbeitszeit(Lohn) und Mehrarbeit (Mehrwert) auf – die Relation zwischendiesen beiden Elementen des variablen Kapitals konstituiert dieMehrwertrate.
Kapital wandert in Finanzmärkte
Hiersetzten die neoliberalen »Reformen« der»Reaganomics« von US-Präsident (1981–1988)Ronald Reagan und des »Thatcherism« der englischenRegierungschefin (1979–1990) Margaret Thatcher an. Sie zieltendarauf ab, die sinkende Profitrate durch die Erhöhung derMehrwertrate zu sanieren. Durch das Absenken der Kosten für die»Ware Arbeitskraft« konnte der Anteil der notwendigenArbeitszeit am variablen Kapital verkürzt, derjenige derMehrarbeit verlängert werden. Die Profitraten in den USA konntensich tatsächlich merklich erholen, wobei dies auf Kosten deramerikanischen Arbeiterklasse geschah. So stagnieren seit derReagan-Ära die realen, inflationsbereinigten Löhne derUS-Bevölkerung. Heute verdienen sie faktisch weniger als 1973.
Indieser objektiv gegebenen Krise des Verwertungsprozesses des Kapitalsin den 70er Jahren findet sich auch die Ursache für dieüberhandnehmende Inflation jener Zeit: Konfrontiert mit weiterhinerhobenen Gewerkschaftsforderungen nach substantiellenLohnerhöhungen, gingen die Unternehmen dazu über, dieMehrausgaben für die Gehälter auf die Preise ihrer Warendraufzuschlagen. Eine Art lohnpolitischer, die Inflation antreibenderWettlauf setzte ein, in dem Gewerkschaften ihre Lohnforderungen an dieimmer schneller galoppierende Inflation anzupassen trachteten. Erst dieneoliberalen Regierungen brachen den Gewerkschaften imangelsächsischen Raum das Rückgrat und setzten fortan auf denMonetarismus.
In unserem Zusammenhang sind vor allem dieFolgen dieser mit Lohndumping, Sozialabbau und Outsourcingeinhergehenden neoliberalen Politik von Relevanz. Die von denNeoliberalen eingeleiteten Reformen brachten bald die ihnen immanenten,unüberwindlichen Widersprüche zum Vorschein. Diestagnierenden Löhne, die Steuergeschenke an Wohlhabende und derSozialabbau ließen tatsächlich bald die Profite und dieVermögen kräftig wachsen, doch zugleich sank dieMassennachfrage. Zu den Warenbergen, die keine Käufer fanden,gesellten sich Berge von Kapital, das kaum in der weiterenWarenproduktion profitable Investitionsmöglichkeiten findenkonnte. Es drohten somit klassische Überproduktions- undÜberakkumulationskrisen. Abhilfe schuf hier der seit den 80erJahren immer weiter expandierende und fortwährend deregulierteFinanzsektor, der zu einer regelrechten finanziellen Explosionansetzte, für die sich schnell im angelsächsischen Raum derBegriff »Financialisation of capitalism«, Finanzialisierungdes Kapitalismus, etablierte.
Auf scheinbar magische Weiselöst die Finanzialisierung dieses spätkapitalistischeDilemma. Die wild wuchernden Finanzmärkte nehmen dasüberschüssige Kapital auf, die während der Boomphasendiverser Spekulationsblasen generierten Gewinne sorgen hingegenfür kaufkräftige – aber auch fiktive, kreditfinanzierte– Nachfrage, die stimulierend auf die Warenproduktion wirkt. Essind also gerade die im spekulativen Fieber verfangenenFinanzmärkte, die der schwindsüchtigen realen Wirtschaftvermittels Nachfrage auf die Sprünge helfen. Dies ist auch das»Geheimnis« der anscheinend so stürmisch wachsendenUS-Konjunktur in den 90ern: Die anhaltende Hightech-Spekulationermöglichte den langen Aufschwung in der Regierungszeit von Bill Clinton (1993–2001). Die Vorstellung von einemzersetzenden Finanzkapital, das das kerngesunde produzierende Gewerbemit in den Abgrund der Rezession reißt, stellt somit dieRealität geradezu auf den Kopf.
Schwarzes Loch USA
Anhandder letzten Immobilienspekulationen können wir diesen Effekt imRahmen einer regelrechten »Blasenökonomie« besondersgut studieren. Nach dem US-amerikanischen Ökonomieprofessor RickWolff können zwei Drittel des US-Aufschwungs der letzten fünfJahre auf den wild wuchernden Immobiliensektor der USAzurückgeführt werden, sogar drei Viertel allerneugeschaffenen Arbeitsplätze in diesem Zeitraum sind aufgrund derImmobilienblase entstanden! Der Soziologe John Bellamy Fosterfaßte diesen Prozeß folgendermaßen zusammen:»Die Wahrheit ist, daß das avancierte kapitalistischeSystem von dem Prozeß der Finanzialisierung (dem Anwachsen derfinanziellen Struktur in Relation zur ›realenÖkonomie‹) abhängig war, der sich als das wichtigsteMittel erwiesen hat, die Stagnation in der Produktion und derInvestitionstätigkeit in den vergangenen Dekaden zu bekämpfen– beginnend in den 60er Jahren, aber beschleunigend in den 80ernund nochmals zusätzliche Fahrt aufnehmend in den 90ern. Das wares, was vorwiegend das ökonomische Wachstum in den VereinigtenStaaten und anderswo im Zentrum des Systems anspornte – unterBerücksichtigung der Stagnation bei den Investitionen in neueProduktionskapazitäten (die wegen existierenderÜberkapazitäten niedrig blieben).«
DieseFinanzialisierung erreichte globale Dimensionen, indem sich mit derZeit Defizitkreisläufe mit den USA als deren Mittelpunktausbildeten, die bis heute als eine Art globaler Konjunkturmotorfungieren: Die exportorientierten Länder wie China, Japan oderDeutschland liefern ihre Waren in die USA und investieren das Geld dortsogleich wieder – vornehmlich in deren Finanzsektor. Somitfließen in dem größten pazifischen Defizitkreislaufdie chinesischen Waren in Richtung USA und auf dem Rückwegströmt ein geisterhafter Fluß von amerikanischen»Wertpapieren«, oder grün bedruckten Papierzetteln,die liebevoll »Greenback« genannt werden, in Richtung Chinazurück.
Die Vereinigten Staaten bildeten ein»schwarzes Loch der Weltkonjunktur«, in dem dieÜberschußproduktion der exportorientierten Volkswirtschaftenverschwand. An die 20 Milliarden US-Dollar müssen monatlich in denFinanzsektor der USA fließen, um deren gigantische Defiziteauffangen zu können. Das Handelsdefizit zwischen den USA und Chinabetrug beispielsweise 2007 über 250 Milliarden US-Dollar. DieChinesen leihen den USA somit das Geld, damit diese weiter ihreProdukte kaufen können. Es ist klar, daß die gute Konjunkturder letzten Jahre einfach auf Pump realisiert wurde, insbesondere durchdie Verschuldung innerhalb der Vereinigten Staaten.
Inzwischenist die Gesamtverschuldung der USA in wahnwitzige Dimensionenvorgerückt, die absolut keine Parallelen in der Geschichte diesergrößten Volkswirtschaft der Welt aufweisen. Ende März2008 standen die Vereinigten Staaten mit einer Summe, die 350 Prozentihrer jährlichen Gesamtwirtschaftsleistung entspricht, in derKreide! Man könnte dieses System auch als eine Art»privatisierter Keynesianismus« bezeichnen, in demUS-Bürger mit ihrem »deficit spending«(Defizitfinanzierung) die Konjunktur stützen. Dasselbe tut imEndeffekt der amerikanische Staat, dessen Verschuldung ebenfallslängst astronomische Höhen erreicht hat. Global ist diesesSystem deswegen, weil dieser schuldenfinanzierte Nachfrageboom imZentrum der globalen Defizitkreisläufe steht, die auch dieVolkswirtschaften in Südostasien und Europa über Wasserhalten. Es ist dieses auf Pump betriebene weltwirtschaftliche Perpetuummobile, das das Herzstück der globalen»Finanzblasenökonomie« bildete und nun im Zuge derFinanzkrise zum Stillstand kommt. Die Industrie des»Exportweltmeisters Deutschland« profitierte übrigensvon der globalen Defizitkonjunktur im besonderen Maß. Dievermittels Hartz-IV-Gesetzen durchgesetzte Verelendung in der BRD dientder Zurichtung der deutschen Gesellschaft auf die Interessen desexportorientierten, »schaffenden« deutschen Kapitals,dessen Exportoffensive im Rahmen der globalen Defizitkreisläufeeine komplementäre Funktion zum steigenden Handelsdefizit der USAeinnahm.
Lohnarbeit verflüchtigt sich
DerZusammenbruch dieser nahezu drei Jahrzehnte andauernden Ära derFinanzialisierung des Kapitalismus läßt nun die derspätkapitalistischen Produktionsweise innewohnende Krisendynamikvoll ausbrechen. Die zum Wesen des Kapitalismus zählendebeständige Revolution der Produktivkräfte und die permanentenProduktivitätssteigerungen führen nun zu einer regelrechten»Krise der Arbeitsgesellschaft«, wie der linksliberalebürgerliche Ökonom Jeremy Rifkin konstatiert. Laut Rifkingingen zwischen 1995 und 2002 über 31 MillionenIndustriearbeitsplätze in den 20 größtenVolkswirtschaften verloren, wobei jede Region der Welt einenRückgang der Beschäftigtenzahl in der Industrie verbuchte– und das in einem Zeitraum, in dem die globaleIndustrieproduktion um 30 Prozent anstieg. Ähnliche Entwicklungenprognostiziert Rifkin für den Dienstleistungssektor, in dem»intelligente Technologien« ebenfalls menschlicheArbeitskraft zusehends überflüssig werden lassen. Die bereitsangedeutete, seit den 80er Jahren mit den Umwälzungen derMikroelektronik und IT-Technik einhergehende »dritte industrielleRevolution« macht Lohnarbeit innerhalb des Reproduktionsprozessesdes Kapitals in nie zuvor erlebtem Ausmaß überflüssig.
Esist kein Zufall, daß ausgerechnet der Fahrzeugbau sich im Zentrumder Wirtschaftskrise befindet. Dietmar H. Lamparter schrieb am16.10.2008 in Die Zeit über die Auswirkungen erhöhterProduktivität auf die deutsche Autowirtschaft: »Die Crux ander Situation: Selbst wenn die deutschen Hersteller die Verkäufeihrer Fahrzeuge konstant halten können, wächst mit jedemneuen Modell der Druck auf die Arbeitsplätze. DieProduktivität beim Wechsel von Golf V auf Golf VI sei in Wolfsburgum mehr als zehn Prozent und in Zwickau sogar um mehr als 15 Prozentgestiegen, verriet ein stolzer VW-Chef Winterkorn bei derPräsentation der Neuauflage des wichtigsten Konzernfahrzeugs. Dasbedeutet, daß für die Montage der gleichen Zahl von Autosfünfzehn Prozent weniger Leute nötig sind. Wenn also vom GolfVI nicht entsprechend mehr abgesetzt wird, sind Jobs in Gefahr. Genausoläuft es bei neuen Modellen von BMW, Mercedes oder Opel. Teilweisewerden dort Produktivitätssprünge von 20 Prozenterzielt.«
Die Lohnarbeit, letzten Endes die Substanz derKapitalverwertung, »verflüchtigt« sich also aufgrunddieser ureigensten kapitalistischen Dynamik aus demAkkumulationsprozeß. Der tendenzielle Fall der Profitrate –wie auch die damit einhergehende, von Rifkin konstatierte »Kriseder Arbeitsgesellschaft« – scheinen auf eine innereSchranke des kapitalistischen Systems hinzuweisen. Obwohl Lohnarbeitseine Substanz bildet, ist das Kapital als »prozessierenderWiderspruch« (Karl Marx) gesetzmäßig bestrebt, denAnteil der Lohnarbeit an seiner Reproduktion immer weiter zu senken.Die Finanzialisierung des Kapitalismus hat diese Krisentendenzenvermittels Defizitkonjunktur, Blasenbildung und Verschuldung füreinige Dekaden absorbiert, doch nun brechen sie verstärkt hervor:»Die einzige wirkliche Barriere der kapitalistischenProduktion«, prognostizierte bereits Marx, »ist das Kapitalselbst«. Wir befinden uns somit am Vorabend einer veritablenSystemkrise des kapitalistischen Weltsystems. Die sich im Schoßeder kapitalistischen Produktionsweise beständig revolutionierendenProduktivkräfte geraten immer weiter in einen fundamentalenWiderspruch mit denselben kapitalistischenProduktionsverhältnissen, die inzwischnen als deren Fesselnfungieren.
Die Aufgabe der revolutionären,antikapitalistischen Linken besteht darin, das öffentlicheBewußtsein über diese höchst gefährliche Situation- die jederzeit in Barbarei umschlagen kann - zu verbreitern undpostkapitalistische, jenseits der uferlosen, fetischisiertenKapitalreproduktion angesiedelte gesellschaftliche Alternativen zudiesem autodestruktiven, spätkapitalistischen System zudiskutieren und aufzuzeigen. Das Räsonieren überKonjunkturprogramme – die ohnehin nur die mit derFinanzialisierung untergegangene Defizitkonjunktur in staatlicher Regiebis zum Staatsbankrott fortführen werden – können wirgetrost der CDU und SPD überlassen. Ein »Zurück«zum bereits in den 70ern in der Krise befindlichen Keynesianismus, zumassiven Konjunkturprogrammen, wird ebenso wirkungslos bleiben wie eineerneute Regulierung der Finanzmärkte. Genauso könnte maneinen Krebskranken mit Hustenbonbons zu heilen versuchen.