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Pulse of Europe: strunz dumm oder Demagogie?

Seit einiger Zeit gibt es an Sonntagen in deutschen Großstädten eine neue Bewegung: „Pulse of Europe". Den meisten Teilnehmern ist der Begriff "Europa" offenbar unbekannt und verwechseln ihn mit "EU". Dumm oder Absicht?

 

Wer EU und Europa synonym verwendet,
ist entweder
strunz dumm oder
ein ganz übler Demagoge.

 

Von Wolfgang Hübner

Seit einiger Zeit gibt es an Sonntagen in deutschen Großstädten wie Frankfurt am Main, Berlin und anderen eine neue Bewegung, die sich dort auf den Straßen und Plätzen manifestiert. Die Zahl der Menschen, die sich bei den Kundgebungen von „Pulse of Europe“ (Puls von Europa, im weiteren Text kurz: PoE) beteiligt, ist schnell gewachsen und wächst weiter. Wer sich an dem Bekenntnis zur EU und einem möglichst umfassend vereinten Kontinent beteiligt, muss keinen Antifa-Terror fürchten, ist unter lauten gutmeinenden Leuten und kann sicher sein, in allen Medien gelobt und stark beachtet zu werden.

 

Es wäre falsch, den meisten Teilnehmern von „PoE“ aufrichtige Motive bei ihrer Sorge vor einem weiteren Auseinanderbrechen der EU nach dem Brexit, vor der Stärkung nationalstaatlicher Bewegungen sowie der Konjunktur sogenannter „rechtspopulistischer“, EU-kritischer Bewegungen schlichtweg abzusprechen. Europa war schließlich lange genug ein blutgetränkter Kriegsschauplatz. In diese Vergangenheit will niemand mehr zurück, übrigens auch die Kritiker von „PoE“ nicht. Und viele Menschen wissen es zu schätzen, keine Grenzkontrollen mehr passieren zu müssen oder im Euro-Raum kein Geld mehr in eine Fremdwährung tauschen zu müssen.

 

Eine Teilnehmerin in Frankfurt wird mit der Aussage zitiert: „Mir ist wichtig, dass Europa bestehen bleibt, und das ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Es ist für uns wie der Kirchgang geworden – und im Moment ist das hier wichtiger.“ Europa ist für diese Frau und viele andere Teilnehmer offenbar eine Art Zivilreligion, die Kundgebungen also eine Art Dienst am weltlichen Götzen „Europa“ statt Gottesdienst in leeren Kirchen.

 

Das ist einer näheren Betrachtung wert. Der Wunsch, Europa möge bestehen bleiben, setzt allerdings stillschweigend die Gleichsetzung der EU mit Europa voraus.

 

Doch nicht nur EU-Nichtmitglieder wie die wohlhabenden Demokratien Schweiz und Norwegen, das so vielfaltfreie wie vitale Island, sondern demnächst auch die einstige Weltmacht Großbritannien mit jahrhundertealter, ungebrochener parlamentarischer Tradition stehen abseits der EU. Und auch das gewohnt autoritär geführte, doch tief in der europäisch-christlichen Kultur verwurzelte Russland (zumindest bis zum Ural) mit riesiger Landmasse und der mit Abstand größten Bevölkerungszahl gehören zu Europa; die Ukraine, Weißrussland sowie einige Balkanstaaten nicht zu vergessen.

 

Wer Europa beschwört, aber eigentlich nur die EU meint, mindert zumindest seine Glaubwürdigkeit. Doch richtig gefährdet wird diese durch die Unterschlagung einiger sehr realer Fakten: Die heutige EU, einst als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Rom von sechs Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, gegründet, war und ist im Kern das, was ihr ursprünglicher Name auch kündete – eine Wirtschaftsgemeinschaft zum Zweck gegenseitigen Vorteils in einer Welt mit inzwischen starken ökonomischen Konkurrenten wie den USA, China und Japan.

 

In der EU selbst ist nach dem Abgang der Briten als wirtschaftsstärkster und bevölkerungsreichster Staat eindeutig Deutschland die dominante Macht und – wenngleich unlustige und an heuchlerischem Hypermoralismus leidende – Führungsnation. Diese Tatsache wird von der deutschen politischen Klasse gerne kleingeredet oder gar verschwiegen, ist außerhalb der Grenzen jedoch selbst im stets eifersüchtigen Nachbarland Frankreich unbestritten. Nach dem Brexit und der ökonomischen Neuorientierung unter Präsident Trump in den USA droht diese Dominanz jedoch zu einer schweren, vielleicht schon bald nicht mehr tragbaren finanziellen und politischen Last für den Hauptzahlmeister der EU zu werden.

 

Für die damit zusammenhängenden vielfältigen Probleme und Herausforderungen reicht es nicht, blaue Europafahnen zu schwenken und im schwammigen Gemeinschaftsgefühl derer zu schwelgen, die tatsächliche oder vermeintliche Vorteile vom jetzigen Zustand der EU zu haben glauben. Wer mehr „Europa“ fordert, in der Konsequenz also auch eine Schuldenunion, muss sagen, wer die Zeche bezahlen soll. Er muss auch sagen, welche Folgen eine mögliche EU-Sozialunion für die sozialen Standards in Deutschland haben dürfte. Es werden übrigens gewiss keine Folgen der vorteilhaften Art für viele Menschen mit niedrigem oder normalem Einkommen sein.

 

Es ist auch zu dünn, was die Initiatoren von „PoE“ in Interviews zur Problematik der Masseneinwanderung nach Europa, richtiger gesagt bestimmten EU-Staaten, von sich geben: Die Flüchtlinge sollten endlich „gerecht“ verteilt werden. Genau dagegen wehren sich – nur zu verständlich – offen oder versteckt eine ganze Reihe von EU-Staaten, übrigens mit großer Unterstützung ihrer jeweiligen Bevölkerungen. Und nicht nur diese Nationen werden sich demnächst gegen eine allzu große deutsche ökonomische und politische Dominanz in der EU wehren, selbst wenn diese sich noch so geschickt zu verbergen sucht.

 

So lange es noch nationale Wahlen in den EU-Staaten gibt – und noch nicht einmal die freudigsten „PoE“-Fans haben bislang offen deren völlige Abschaffung gefordert – werden die gewählten Regierungen mit Vorrang ihren jeweiligen Wahlvölkern und deren Interessen und Nöten verpflichtet sein (müssen). Im Sinne einer lebendigen freiheitlich-demokratischen Grundordnung in ganz Europa kann und darf das auch nicht anders werden. Das macht zwar das politische Geschäft zwischen den Staaten oft mühselig und zäh, aber dafür werden verantwortliche Politiker ja auch ganz gut bezahlt.

 

Ob nun bewusst oder, wie ich vermute, eher unbewusst und naiv: Die meisten Teilnehmer an den „PoE“-Kundgebungen setzen sich für einen demokratisch niemals kontrollierbaren politischen und ökonomischen Koloss „Europa“ ein, der letztlich nur mit größten Demokratiedefiziten oder offen autoritär zu regieren wäre. Ein bezeichnender Nebenaspekt: Die EU hat absurderweise ausgerechnet diejenige als inoffizielle Verständigungssprache, deren Mutterland gerade den Scheidungsprozess von der EU in Gang gesetzt hat. Die um Großbritannien geminderte EU würde mit Sicherheit schon daran krachend scheitern, deshalb künftig deutsch, französisch, italienisch oder spanisch, von ungarisch oder polnisch gar nicht zu reden, zur Verkehrs- und Verständigungssprache in der Union zu machen.

 

Dass „PoE“ in Deutschland entstanden ist und dort auch die größte Resonanz hat, ist nicht nur in einer besonderen Europabegeisterung der Deutschen oder dem Bewusstsein, von der EU in hohem Maße zu profitieren begründet. Vielmehr gibt es nirgendwo auf dem Kontinent eine so hohe Bereitschaft, sich als Nation in „Europa“ aufzulösen, um einer Vergangenheit, die einfach nicht vergehen will (und soll!) endlich ein für alle Mal zu entkommen. Funktionieren, dafür werden schon künftig ökonomische und finanzielle Verwerfungen in der EU sorgen, wird dieser Fluchtversuch allerdings nicht.

 

Es wäre naiv zu glauben, dass hinter „PoE“ nur Idealisten mit dem Wunsch nach einem geeinten, friedlichen Europa ständen. Es gibt nachweisbar mächtige und finanzstarke wirtschaftliche und politische Interessengruppen im Hintergrund, die eine Bewegung unterstützen, in deren 10 Grundthesen zwar viel von „Freiheit“ wie „freier Warenverkehr, freier Zahlungsverkehr und Dienstleistungsfreiheit“, aber nichts von Sozialstaat und sozialer Sicherheit, nichts von islamischem Terrorismus, Flüchtlingsansturm sowie nur höchst oberflächlich von nationaler und kultureller Identität die Rede ist.

 

Wem diese Einseitigkeit nutzt, ist klar, nämlich zum Beispiel ausgebufften Wirtschaftsanwälten wie dem Frankfurter Initiator von „PoE“, Dr. Daniel Röder, der Partner der Nobel-Wirtschaftskanzlei „Greenfort“ ist. Diese richtet sich nach eigener Auskunft „mit wirtschaftsrechtlicher Beratung insbesondere an den gehobenen Mittelstand sowie kleinere und mittelgroße Finanzinvestoren.“

 

Wem eine die tatsächlichen Probleme Europas und der EU unterschlagende bzw. schönredende Bewegung wie „Pulse of Europe” allerdings nicht nutzt, das ist die große Mehrheit der Menschen in Europa und der EU. Diese Erkenntnis wird sich jedoch nach und nach durchsetzen. Daran dürfte „Pulse of Europe“ scheitern wie jede Propaganda-Aktion, die von den nüchternen Realität ablenken will.

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