DIW ohne Prognose für 2010. "Haben die Entwicklung in all ihrer Dramatik sonicht vorausgesehen. Die Makroökonomik befindet sich in einemErklärungsnotstand." Angesichts der derzeit besonders großen Unsicherheit wird daraufverzichtet, eine explizit quantitative Prognose für das Jahr 2010vorzulegen. Das DIW Berlin wird in seiner morgigen Frühjahrsanalyse derWirtschaft auf die Präsentation einer Wachstumsprognose für das Jahr2010 verzichten. Das Institut reagiert damit auf die jüngste Seriedrastisch nach unten korrigierter Konjunkturprognosen allerPrognostiker. Dies hatte zu einer öffentlichen Debatte über Sinn undFunktion von Konjunkturprognosen geführt.
In der gegenwärtig noch immer anhaltenden Situation extrem großerUnsicherheiten sei eine quantitative Prognose für das nächste Jahrderzeit nicht sinnvoll, so das Institut in einer heute veröffentlichtenErklärung.
"Seit der Verschärfung der Finanzkrise laufen alleVorhersagen der tatsächlichen Entwicklung drastisch hinterher", sagteDIW-Präsident Klaus F. Zimmermann. "Sämtliche Prognostiker - das DIWBerlin inbegriffen - haben die Entwicklung in all ihrer Dramatik sonicht vorausgesehen. Die Makroökonomik befindet sich in einemErklärungsnotstand."
"Die Makroökonomie befindet sich im Erklärungsnotstand"
Die Erklärung des DIW Berlin im Wortlaut (Vorabauszug aus derausführlichen Wirtschaftsanalyse im DIW Wochenbericht vom 15. April2009)
Die gegenwärtige Krise, die ihren Anfang beim Platzen der von denBanken mit windigen Finanzprodukten aufgepumpten Immobilienblase in denUSA nahm, hat sich inzwischen wie ein Flächenbrand auf dieWeltwirtschaft ausgebreitet. Sämtliche Prognostiker haben dieEntwicklung in all ihrer Dramatik nicht vorausgesehen.
Im Fall Deutschlands traten die meisten Prognosen schon deshalbnicht ein, weil der konjunkturelle Wendepunkt falsch eingeschätztwurde. Hierzu hatte beigetragen, dass sowohl die Investitionen als auchdie Beschäftigung bis in den Herbst des letzten Jahres zunahmen.
DasGefahrenpotential, das sich infolge der Probleme auf den Finanz- undImmobilienmärkten zusammenbraute, wurde unterschätzt. Dass dasUmschwenken in eine Rezession zu spät erkannt wird, ist eingrundsätzliches, bereits in der Vergangenheit zu beobachtendes Problemder Konjunkturforschung.
Offenkundig verfügt die Konjunkturforschung noch nicht übergeeignete Instrumente, um Wendepunkte, insbesondere beginnendeAbschwünge, zu erkennen. Verkannt wurde zudem die rasche weltweiteAusbreitung der Krise - und dabei insbesondere die Infizierung derSchwellenländer.
Nach dem bisherigen Stand der Forschung war das nichtzu erwarten. Empirische Studien zeigen, dass die Konjunkturzyklenzwischen Industrie- und Schwellenländern in den letzten Jahrzehntennicht synchroner wurden, sondern zunehmend auseinandergelaufen sind.Danach hätte eine robuste Konjunktur in den Schwellenländern denAbsturz in den USA durchaus kompensieren können. Aber auch innerhalbder Gruppe der Industrieländer war ein gemeinsamer Einbruch aufgrundfrüherer Erfahrungen nicht zwingend.
Der internationale Konjunkturzusammenhang zwischen denIndustrieländern ist zwar ab der zweiten Hälfte der 90er Jahreintensiver geworden, aber nur sehr allmählich. Des Weiteren wurde dasAusmaß des Produktionsrückgangs enorm unterschätzt. Diemakroökonomische Theorie bietet kaum überzeugende Instrumente, um dieTiefe der Krise nachzuvollziehen. So bilden internationaleHandelsverflechtungen einen wichtigen Transmissionskanalkonjunktureller Entwicklungen.
Die wirtschaftliche Integration hat sichjedoch in Europa und in Asien in den letzten Jahren wesentlichdynamischer entwickelt als die Handelsbeziehungen einzelner Länder mitden USA. Außerdem machen die US-Importe nur rund 5 Prozent derWeltproduktion aus.. Um einen Rückgang der Produktion im Rest der Weltvon nur einem Prozent auszulösen, wäre ein Absturz der US-Importe von20 Prozent erforderlich.
Legt man die empirischenEinkommenselastizitäten der Importnachfrage in der Größenordnung von 2zugrunde, müsste das Bruttoinlandsprodukt der USA dann dafür schon umrund 10 Prozent schrumpfen.
Dies wird derzeit nicht einmal vonPessimisten erwartet. Daher scheint der Konjunktureinbruch in den USAungeeignet zu sein, die Schrumpfung der Weltproduktion hinreichend zuerklären. Die Finanzkrise hat den internationalenKonjunkturzusammenhang - zumindest zeitweise - mit hoherWahrscheinlichkeit verstärkt.
Durch die Insolvenz von Lehman Brothers ist das Vertrauen in dieFinanzmärkte zusätzlich schwer erschüttert worden. Zwar hatten vieleBeobachter bereits frühzeitig auf mögliche Gefahren hingewiesen, dieaus einer Kreditverknappung für Unternehmen und Haushalte folgen, docheine globale Kreditklemme ist bisher nicht zu beobachten.
Ein starkerEinfluss der Vermögensmärkte auf die realwirtschaftliche Entwicklungist zudem nicht generell, sondern eher für die angelsächsischen Länderzu belegen. Die traditionellen Erklärungsmuster scheinen in dergegenwärtigen Situation nicht angemessen zu sein. Auch pessimistischeErwartungen und Stimmungen der Investoren können die von denImmobilien- und Finanzmärkten ausgehenden Schocks und diekonjunkturellen Übertragungseffekte verstärkt haben.
Weil die Rezessionweitaus tiefer ist als von den meisten Beobachtern erwartet, hat dieHäufigkeit von Prognoserevisionen zugenommen. Dabei laufen dieVorhersagen der tatsächlichen Entwicklung hinterher.
Dies zeigt sichbeispielsweise in den Consensus-Prognosen für das laufende Jahr, einermonatlich veröffentlichten Umfrage unter führenden Prognostikern. InZeiten einer ruhigen Wirtschaftsentwicklung ist der Mittelwert dieserVorhersagen recht stabil; im Zuge der aktuellen Krise wurde er aberkontinuierlich und im Gleichschritt nach unten korrigiert.
Das verweistauf ein altbekanntes sozialpsychologisches Phänomen: Die Prognostikerneigen dazu, sich an anderen zu orientieren und ihre Vorausschätzungeninnerhalb eines Rahmens abzugeben, von dem sie annehmen, dass er vonder Wissenschaftsgemeinde akzeptiert wird. Dieses Imitationsverhaltenverhindert, dass eine von der "Herde" stark abweichendeKonjunkturanalyse erstellt wird.
Alles in allem: Die Makroökonomik befindet sich in einemErklärungsnotstand, so dass Prognosen in der heutigen Zeit nur mitgrößter Vorsicht zu interpretieren sind. Bei der Entwicklung vonPrognose- und Simulationsmodellen steht die empirischeWirtschaftsforschung weiterhin vor großen Herausforderungen.
Frühwarnsysteme zur Aufdeckung destabilisierender Spannungen imWirtschaftsablauf stellen eine unverzichtbare Ergänzung der gängigenStrukturmodelle dar. Gleichzeitig gilt es, keine unerfüllbarenErwartungen an die Modellierbarkeit des Wirtschaftsprozesses aufkommenzu lassen: empirisch gestützte Strukturmodelle, die atypischeWachstumseinbrüche gleichermaßen zu erklären in der Lage sind wie dieEntwicklung in konjunkturellen Normalsituationen, dürften schnell andie Grenzen des Möglichen stoßen.
Sinn von Prognosen ist es, eineOrientierung innerhalb eines in sich konsistenten Szenarios zu geben.Angesichts der derzeit besonders großen Unsicherheit wird daraufverzichtet, eine explizit quantitative Prognose für das Jahr 2010vorzulegen.