Die Zahl der Tablettensüchtigen, die abhängig von Schlaf- und Beruhigungsmitteln
aus der Medikamentengruppe der Benzodiazepine sind, ist wesentlich höher als bis-
her gedacht. Wie der SPIEGEL unter Berufung auf eine noch unveröffentlichte Stu-
die des Hamburger Instituts für interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung be-
richtet, erhalten mehr als 1,5 Millionen Patienten die süchtig machenden Präparate
länger als in den Leitlinien der Mediziner vorgesehen. In der bisher umfänglichsten
Untersuchung zur Tablettensucht in Deutschland haben die Forscher insgesamt
3,5 Millionen Kassenrezepte analysiert. Bei knapp 800000 Patienten pro Jahr sor-
gen Ärzte demnach dafür, dass sie zu Dauerkonsumenten der Mittel werden. In
130000 Fällen machen die Verschreibungen die Opfer zu Schwerstabhängigen, de-
nen der Ausstieg aus der Sucht nur noch in seltenen Fällen aus eigener Kraft ge-
lingt. „Wir waren völlig überrascht über den Umfang des Benzodiazepin-Missbrauchs
in Deutschland“, erklärt der Hamburger Studienleiter Peter Raschke. Verschärft wird
die Situation zusätzlich durch das Verhalten der Ärzte, die, offenbar aus Angst vor
Kontrollen, bei der Verordnung vermehrt auf Privatrezepte ausweichen, die in kei-
ner Statistik auftauchen. Im Jahr 1993, so stellten Bremer Pharmaexperten fest,
wurden nur rund 15 Prozent der als Schlafmittel verwendeten Benzodiazepine pri-
vat verordnet. Inzwischen schätzen sie den Anteil bereits auf zwei Drittel aller Ver-
schreibungen. Das wahre Ausmaß der Tablettensucht wird dadurch verschleiert.
Suchtmediziner sehen den Trend mit Sorge: „Kollegen, die die Flucht in Privatrezepte
einschlagen, haben schlicht und ergreifend Angst, dass ihnen Kassenärztliche
Vereinigungen oder Krankenkassen hinter die Langzeitverschreibungen kommen
könnten – das ist Beihilfe zur Sucht“, kritisiert Rüdiger Holzbach, Psychiater an den
LWL-Kliniken Warstein und Lippstadt. [DER SPIEGEL 17/2009]