Diese Entwicklung hat sich in den letzten Monaten unter der Wirkung von zwei wichtigen Trends verstärkt:
Zum einen haben die verzweifelten Versuche zur Rettung des globalenFinanzsystems, und insbs. ihrer britischen und amerikanischenBestandteile, wesentlich dazu beigetragen, die bisher nochverläßlichen „Navigationsinstrumente“ zuzerschlagen; sie wurden durch die verschiedenartigsten Manipulationen,die die Banken, die Regierungen und die Zentralbanken vornahmen,unbrauchbar und tragen nun mit ihren widersprüchlichen oderinkoheränten „Messergebnissen“ sogar noch zurVerunsicherung bei. Die Aktienmärkte sind dafür das besteBeispiel.
Zum anderen haben die astronomischen Summen, die in nureinem Jahr in das globale Finanzsystem und insbesondere in dieUS-Banken gepumpt wurden, dazu geführt, dass die Banker undPolitiker den Bezug zur Realität vollständig verloren haben.Man hat den Eindruck, dass sie alle von der Taucherkrankheit befallensind, bei der der Taucher das Gefühl für oben und untenverliert und statt, wie beabsichtigt, aufzusteigen, immer tieferabtaucht. Die Geldkrankheit scheint identisch auf das Gehirn und denOrganismus zu wirken.
Navigationsinstrumente undOrientierungshilfen unbrauchbar oder irreführend,Orientierungslosigkeit der Wirtschaftsführer und Politiker…das sind die beiden entscheidenden Faktoren, die dazu führen, dassdas internationale System sehr bald ohne Kompass und Karte in terra incognita unterwegs sein muss.
Wir wollen hier drei Beispieleanführen, die zeigen, dass wir in einer Zeit des Umbruchs leben,wie er sich nur alle zwei- oder dreihundert Jahre ereignet:
1. 2009 hat der Leitzins der Bank von Englandseinen seit der Gründung dieser altehrwürdigen Institution imJahr 1694 (vor 315 Jahren) niedrigsten Stand erreicht (0,5%).
3. Im April 2009 wurde China derwichtigste Handelspartner Brasiliens. In mehr als zweihundert Jahrengab es davor nur einmal einen Wechsel. Vor China waren die USA derwichtigste Handelspartner Brasiliens, und vor den USA das BritischeReich (bis 1930) (3). Offensichtlich läßt sich an derBedeutung der Handelspartnerschaft mit Brasilien viel über dieStellung eines Landes in der Welt ablesen: Die erste Weltmacht ist aucherster Handelspartner Brasiliens.
Wir wollen uns hier nicht damitaufhalten, die vielen Trends zu beleuchten, die sich gerade in den USAjenseits von dem bewegen, was dort über hundert Jahre„üblich“ war; jenseits von hundert Jahren kann man indem sich so schnell und grundlegend verändernden Amerika nicht voneinem gültigen Bezugsrahmen oder einer dauerhaften Norm sprechen.Wir begnügen uns damit, sie kommentarlos aufzulisten: Wertverlustdes Dollars, öffentliche Defizite, öffentliche Schulden,Handelsbilanzdefizite, Zusammenbruch des Immobilienmarktes,Bankenverluste… (4) Alles sprengt das bisher Vorstellbare.
Natürlich kommen solche Beispielein dem Land, das im Epizentrum der Krise liegt, besonders häufigvor; wir haben schon seit 2006 ausführlich in den Ausgaben desGEAB darüber berichtet. Was aber neu ist und dazu führt, dasssechzig Jahre lang Gültiges heute seine Gültigkeit verliert,ist die Tatsache, dass so viele Länder und so viele Sektorenbetroffen sind. Wenn nur ein Land oder nur ein Sektor betroffenwäre, wäre diese Krise nur eine, wie es schon viele vor ihrgab. Aber diese Krise trifft im internationalen System viele wichtigeLänder und viele Wirtschafts- und Finanzsektoren gleichzeitig. Dasmacht die Krise zu einer Krise, wie sie in zwei- oder dreihundertJahren nur einmal eintritt.
Es bleibt natürlich jedembelassen, aus irgendwelchen monatlichen Abweichungen irgendwelcherWirtschafts- oder Finanzindizes um ein oder mehrere Prozentpunkte raufoder runter, die darüber hinaus auch noch von staatlichen oderBanken-Interventionen beeinflusst wurden, mehr über dieEntwicklung der gegenwärtigen Krise ablesen zu wollen als ausVergleichen mit Entwicklungen, die mehrere Jahrhunderte abdecken, unddie nachweisen, dass eine solch Situation ein Novum ist. Natürlichist auch jedem belassen zu glauben, dass die, die weder die Krise nochihr Ausmaß vorher zu sehen vermochten, heute in der Lage sind,vorher zu sehen, wann die Krise überwunden sein wird.
All denen empfehlen wir aber, sichden Film « Matrix » zu Gemüte zu führen und sichGedanken darüber zu machen, wie verzerrend und irreführendeine Umgebung wahr genommen wird, wenn alleWahrnehmungsmöglichkeiten und Sinnesorgane manipuliert wurden (5).
In dieser 35. Ausgabe des GEAB gebenwir Hinweise zu den Indikatoren, die selbst in dieserÜbergangsphase von einem bekannten Bezugsrahmen in unbekanntesTerrain verläßliche Informationen über die Entwicklungder Krise und das Wirtschafts- und Finanzumfeld vermitteln können.
(1) Wir schrieben damals: wie immer beim Übergang von einer Phasein die nächste kommt beim Überschreiten des Nullpunkts„statistischer Nebel“ auf, in dem die Indikatoren inentgegen gesetzte Richtungen zeigen und die Messungenwidersprüchliche Ergebnisse bringen, bei denen die möglichenMessabweichungen größer sind als die erzieltenMessergebnisse. In der Welt von 2007 ist der Untergang, der die Welt inAtem halten wird, nicht der der Titanic, sondern der USA; wir habenbeschlossen, diesen Untergang die „Very Great Depression“zu nennen. Zum einen, weil die Great Depression bereits der Name derKrise nach 1929 ist. Zum anderen, weil wir davon ausgehen, dass dieNatur und das Ausmaß diese Krise von einer wesentlichergrößeren Dimension sein werden. Quelle: GEAB N°11, 15/01/2007
(2) Quelle: France24, 16/04/2009
(3) Quelle: TheLatinAmericanist, 06/05/2009
(4) Die Politiker und die Wirtschaftswissenschaftler vergleichen dieheutige Krise weiterhin mit der von 1929, als ob diese einnützlicher Bezugspunkt sein könnte. Dabei wirken in den USATrends, die in vielen Bereichen weit über das hinaus gehen, was inder Great Depression kennzeichnend war. Wir haben schon in der 31. Ausgabe des GEABdarauf hingewiesen, dass die weltweite Krise von 1873 bis 1886 mit derheutigen eher vergleichbar wäre. Für Entsprechendesmüssen wir also über ein Jahrhundert zurück blicken.
(5) In der Matrix-Filmseriewerden alle Sinneswahrnehmungen der Menschen informationstechnisch somanipuliert, dass sie glauben, ein komfortables Leben zu führen,während sie in Wirklichkeit in Elend dahin vegetieren