Frankreich will Stabilitätspakt aufweichen. Wirtschaftsministerin Lagarde will "Krisenschulden" ausklammern. Setzt sich Frankreich in der EU durch,könnte das zu einer Aufweichung der Defizit- und Schuldenregeln imEU-Stabilitäts- und Wachstumspakt führen.
Frankreich schlägt wegen der Wirtschaftskrise eine Lockerung der Maastrichter Stabilitätskriterien vor. „Wir sollten über eine gesonderte Behandlung der Schulden nachdenken, die derzeit als Folge der Krise entstehen“, sagte Frankreichs Wirtschaftsministerin Christine Lagarde im Interview der Financial Times Deutschland.
Alle Staaten hätten einerseits strukturelle Defizite. Doch als Ergebnis des Wachstumseinbruchs entstünden nun auch krisenbedingte Defizite, da viele EU-Staaten die Konjunktur mit Milliardenausgaben stimulierten. „Diese krisenbedingten Defizite, die auch zu krisenbedingten Schuldenständen führen, sollten meiner Meinung nach gesondert behandelt werden.“
Setzt sich Frankreich in der EU durch, könnte das zu einer Aufweichung der Defizit- und Schuldenregeln im EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt führen. Die Vorschrift sieht vor, dass die Staaten ihre Haushaltsdefizite unter 3,0 Prozent und ihre Schuldenstände unter 60 Prozent der Wirtschaftsleistung halten müssen.
Doch als Ergebnis der milliardenschweren Steuerausfälle und Konjunkturprogramme explodieren die Fehlbeträge. Die EU-Kommission geht davon aus, dass 13 der 16 Euro-Staaten Länder 2009 und 2010 die Defizitgrenzen reißen. In Deutschland rechnet Brüssel kommendes Jahr mit 5,7 Prozent, in Frankreich mit 7,0 Prozent, in Spanien mit 9,8 Prozent und in Irland gar mit 15,6 Prozent.
Die Behörde geht davon aus, dass der durchschnittliche Schuldenstand im Währungsraum 2010 auf 83,8 hochschnellt. EU-Wirtschaftskommissar Joaquín Almunia und die Europäische Zentralbank (EZB) drängen darauf, dass die Staaten schnell zur Budgetdisziplin zurückkehren.
Doch die Krise hat selbst bei bisherigen Befürwortern strengster Haushaltsdisziplin Zweifel am Sinn der Regeln geweckt. So stellte etwa der niederländische Finanzminister Wouter Bos beim vergangenen Treffen der Euro-Ressortchefs infrage, ob der Pakt noch einen angemessenen Handlungsrahmen biete.
Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Fehlbeträge so hoch und die Wachstumsschwäche so ausgeprägt sein könnten, dass viele Staaten für die Rückkehr unter die Paktgrenzen bis zu zehn Jahre brauchen könnten. Doch insbesondere Almunia fürchtet, eine Debatte über eine Neuauslegung oder gar eine Reform des Pakts werde das Regelwerk irreparabel beschädigen. Die EU- und Euro-Finanzminister werden Anfang kommender Woche erneut über die krisenbedingten Defizite und Schulden sprechen.
Lagarde argumentierte, bei den Krisendefiziten handle es sich um eine einmalige, nicht wiederkehrende Erscheinung. Die Wirtschaftsministerin geht davon aus, dass sich die krisenbedingten Anteile an den Fehlbeträgen genau bestimmen lässt. „Man sollte sie auf eine gesonderte Weise auszeichnen“, sagte die Französin. „Das Ziel wäre, dass alle Staaten die Anstrengung beim Abbau ihres Strukturdefizits weiter verfolgen.“ Unter dem Strukturdefizit versteht man den Teil des Fehlbetrags, der um die Folgen konjunktureller Schwankungen bereinigt ist.
Die Ministerin bekannte sich grundsätzlich zum Stabilitätspakt. „Wir brauchen kollektive Disziplin“, sagte Lagarde. „Hätten wir sie nicht, drohten Probleme, da wir in der gleichen Währungs- und Wirtschaftszone sind.“ Auch forderte sie nicht, die Krisendefizite einfach vom restlichen Fehlbetrag abzuziehen und so den Wert rechnerisch wieder näher an die 3,0-Grenze zu bringen. „Ich habe noch keine fertige Antwort darauf, wie wir genau verfahren sollten, aber wir brauchen eine Debatte.“ Beim vergangenen Finanzministertreffen habe sie ihre Ideen bereits angesprochen. „Ich werde darauf wieder zurückkommen.“
Die Ministerin aus der Regierung von Präsident Nicolas Sarkozy weigerte sich, ein Zieldatum zu nennen, bis zu dem Frankreich sein Defizit unter die Paktgrenze senkt. „Meine Hauptsorge ist heute nicht die 3,0-Prozent-Grenze“, sagte Lagarde. „Ich sorge mich darum, wann wir kein Negativwachstum mehr haben werden.“ Sicher sei nur, dass das zu einem früheren Zeitpunkt vereinbarte Zieldatum 2012 inzwischen völlig unrealistisch sei.