Knapp dreieinhalb Monate ist esher, seitdem Thomas Seltmann MMNews für ein erstes Exklusiv-Interview zurVerfügung stand. Seinerzeit sprachen er und der Verfasser dieses Textes überdie international viel beachtete Energy Watch Group, das globale Fördermaximumdes Erdöls, auch “Peak Oil“ genannt, das damit einhergehende „Ende desWachstums“ sowie die grassierende Finanzsystemkrise.
---->Peak Oil und die Finanzsystemkrise
Das Themengebiet „Erneuerbare Energien“kam hierbei eindeutig zu kurz, obwohl Thomas Seltmann gerade auch auf diesemFeld über eine hervorragende Orientierung verfügt. Dies gilt sowohl für dietheoretische Seite der Medaille, die er in Fachmagazinen wie „Sonne, Wind &Wärme“ mit schriftlichen Beiträgen erläutert, als auch für die ganz praktischeSeite, wenn es darum geht, sein Eigenheim mit Photovoltaik auszurüsten.Seltmanns Buch „Photovoltaik:Strom ohne Ende“ zählt jedenfalls zu den Standardwerken, die hierzu fürInteressenten in Betracht kommen.1 Um dasVersäumte nachzuholen, verabredete ich mich mit Thomas Seltmann in Berlin am Spreeufer– nicht zuletzt, damit eine Aussage, die er beim vorherigen Interview traf,etwas klarer erscheinen würde: „Pessimismus ist ein Mangel an Information.“
„Zimtund Zucker“
Nachdem ich in der Mittagszeit ander S-Bahnhaltestation „Friedrichstraße“ ausstieg, zum Schiffbauerdammhinüberging, an einem gut besuchten Straßencafé nach dem anderen vorbeizog, undschließlich am verabredeten Treffpunkt eintraf, dem Kaffeehaus „Zimt undZucker“, wartete mein Interviewpartner bereits auf mich. Ich nahm Platz,bestellte bei der freundlichen Bedienung ein energiereiches, weil extremzuckerhaltiges Erfrischungsgetränk, und wurde von Thomas Seltmann daraufhingewiesen, dass sich schräg gegenüber vom „Zimt und Zucker“ ein rechtinteressantes Gebäude befindet – nämlich das Bundespresseamt, wo dieÖffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung erledigt wird.
Während die freundliche Bedienungmit den bestellten Getränken zurückkam, legte nur unweit entfernt einTouristendampfer ab, um Richtung Bundeskanzlerinnenamt zu verschwinden. Eskonnte losgehen mit dem Interview.
Frage: Herr Seltmann, beim letzten Mal, als wir uns trafen,sprachen wir vor allem darüber, dass das Energieangebot, welches wirErdenbewohner aus den fossilen Quellen schöpfen, immer mehr zurückgeht, undzwar unumkehrbar. Andererseits steigt jedoch die Energienachfrage auf dieserWelt bisher stetig an. Zwischen dem einen und dem anderen klafft eine ziemlicheLücke. Meine grundsätzliche Frage wäre zunächst, ob sich diese Lücke durch die erneuerbarenEnergien schließen ließe.
Thomas Seltmann: Prinzipiell ja, die Frage ist eher, ob es schnellgenug geht. Die Weltbevölkerung sollweiter anwachsen auf demnächst acht Milliarden Menschen. Zugleich sagenÖkonomen, dass sich die globale Wirtschaftsleistung in den nächsten zwanzigJahren verdoppeln soll. Und der Energiebedarf soll auch noch einmal um dieHälfte dessen, was heute verbraucht wird, ansteigen. Dieses Szenario nennt dieInternationale Energieagentur, eine Regierungsorganisation von 28 OECD-Staaten,selbst nicht nachhaltig, allein schon aus Klimaschutzgründen. Sie fordert dahereine klimaneutrale Energiepolitik. Als klimaneutrale Energiepolitik verstehtsie auch den Ausbau der Atomenergie. Das wird allerdings nicht geschehenkönnen.
Frage: Weshalb nicht?
Thomas Seltmann: Weil sich die Atomtechnologie insgesamt auf demRückzug befindet. Die Anzahl der Kraftwerke nimmt ab, die installierte Leistungder Atomkraftwerke geht zurück, die jährlich produzierten Kilowattstundensinken und der benötigte Rohstoff, das Uran, ist bereits jetzt schon knapp. Esgibt keinerlei Hinweise darauf, dass sich dieser Trend umkehren wird und lässt.Und wie Sie schon sagten, bei den fossilen Kraftstoffen ist es um das Angebotähnlich schlecht bestellt. In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren werden wirdas Fördermaximum der konventionellen Energieversorgung insgesamt erleben. DerPeak beim Erdöl findet jetzt gerade statt. Beim Gas wird dies in etwa zehnJahren der Fall sein. Bei der Kohle in ungefähr fünfzehn bis zwanzig Jahren.2 Zwar haben wir hier erst ein Drittel derweltweiten Vorkommen erschöpft. Aber die anderen zwei Drittel sind vonschlechterer Qualität, und außerdem sind sie auch schwerer zu erschließen. Einweiterer Grund für die Verknappung bei der Kohle besteht darin, dass ihrTransport aufwändiger ist im Vergleich zu Öl und Gas. Im Gegensatz zu Öl undGas gibt es für Kohle auch keinen wirklichen Weltmarkt. Nur ein Siebtel dessen,was an Kohle gefördert wird, wird überhaupt exportiert.
Frage: Die Option, die manche Zeitgenossen in der Entwicklung von “Clean Coal“ entdecken, ist also garkeine Option, auch wenn zum Beispiel US-Präsident Obama im letztjährigenWahlkampf große Hoffnungen in diese Energietechnologie zu investieren schien?Er sprach in dem Zusammenhang viel von “energyindependence“.
Thomas Seltmann: Wenn “CleanCoal“, also die Abscheidung vonKohlendioxid in den Kraftwerken, tatsächlich einmal verfügbar sein sollte, wirdes kaum jemanden mehr geben, der in neue Kohlekraftwerke investieren wird,abgesehen davon, dass heute noch niemand weiß, ob die CO2-Abtrennungwirtschaftlich sein wird und ob man ausreichend geeignete Endlager für dasKohlendioxid findet. Wir haben ja schon Probleme, dauerhaft sichere Endlagerfür die festen Stoffe des Atommülls zu finden – wie viel schwieriger wird dasdann wohl sein bei einem Gas.
Frage: Gut. Bleibt nach wie vor die Frage, ob die Lücke, die sichzwischen weniger Energieangebot einerseits, und steigendem Energiebedarfanderseits auftut, durch die erneuerbaren Energien schließen ließe?
Thomas Seltmann: Wenn die Schere nach beiden Richtungen auseinandergeht, müssen wir den Ausbau erneuerbarer Energien viel schneller vorantreiben,als es selbst deren Protagonisten bisher fordern. Business as usual ist injedem Fall zu langsam, um eine kontinuierliche Energieversorgung zugewährleisten, das steht aus unserer Sicht jetzt schon fest.
Frage: Ist es aber nicht so, dass die Investitionen, die in dieAtomkraft getätigt werden, ein massives Hindernis für dringend benötigteInvestitionen in die erneuerbaren Energien darstellen?
Thomas Seltmann: Die Energiewirtschaft argumentiert derzeit genauanders herum, die erneuerbaren Energien behindern den Betrieb vonAtomkraftwerken.
Frage: Inwiefern?
Thomas Seltmann: Nun, schauen Sie: vor gar nicht langer Zeitbeschwerten sich die Stromkonzerne E.ON und EDF in einem offiziellen Brief beider britischen Regierung, dass der Ausbau von Erneuerbaren Energien dazu führenwürde, dass der Ausbau von Atomenergie verhindert werde.3Die Atomenergie ist natürlich eine Brückentechnologie ins Solarzeitalter, wiedas inzwischen von CDU/CSU oder FDP manchmal dargestellt wird. Der scheidendePräsident des Umweltbundesamtes und CDU-Mitglied, Andreas Troge, wies kürzlichdarauf hin, dass die CDU bereits 1989 in ihrem Programm die Atomkraft alsBrückentechnologie bezeichnete und nannte es ein Versäumnis der eigenenPolitik, dass man nach zwanzig Jahren in dieser Frage keinen Schritt weitersei.
Frage: Ein weiterer Punkt, der immer wieder bei den Diskussionenrund um die erneuerbaren Energien auftaucht, ist die Behauptung, dass dieSpeichertechnologie noch nicht soweit wäre, um den kompletten Umstiegvollziehen zu können. Stimmt das oder ist das in der Tat nur eine vorgeschützteBehauptung?
Thomas Seltmann: Bei dieser Diskussion geht es um die Fluktuationzwischen Stromerzeugung und dessen Verbrauch. Diese Fluktuation ließe sichausgleichen. Wind und Solar, die zukünftig vielleicht zu 70 Prozent dieHauptlast der Energieerzeugung tragen sollten, gleichen sich jahreszeitlich gutaus – und zum Teil sogar tageszeitlich. Das vorrangige Problem besteht imAusbau der Stromnetze, weniger in der Speichertechnologie. Im Grunde muss esdarauf hinauslaufen, dass der Verbraucher von Energie zugleich Energielieferantwird, indem er den Strom, den er produziert und nicht selbst verbraucht, insNetz einspeist. Dafür müssen die Austauschkapazitäten geschaffen werden. Zudemsollte jeder Verbraucher die Stromtarife daheim angezeigt bekommen. Je nachVerfügbarkeit der Energie wird ihm angezeigt: jetzt ist der Strom billig, dannist er teuer. Auf die Art und Weise wüsste der Verbraucher, wann er Geräte, dienicht notwendigerweise aktiv sein müssten, am besten abschalten sollte. DieStadtwerke in Eckernförde hatten vor einiger Zeit einen sehr erfolgreichenVersuch in dieser Richtung unternommen. Man bezeichnet so etwas als„lastvariablen linearen Tarif“. Und zur Speicherproblematik insgesamt: das istein Problem, das an und für sich erst dann in Betracht käme, wenn wir dieerneuerbaren Energien so weit ausbauen, dass sie einen hohen Anteil derVersorgung übernehmen. Das Problem kommt nicht an erster Stelle, wird aber voninteressierter Seite in den Vordergrund gerückt, weil es so überzeugenderscheint.
Frage: Müssten die Netzwerke zur Erzeugung erneuerbarer Energienzwangsläufig Großanlagen sein?
Thomas Seltmann: Nein, überhaupt nicht. Das ist einer der Vorteilevon erneuerbaren Energien im Vergleich beispielsweise zur Atomkraft. BeiAtomkraftwerken haben Sie es mit Großanlagen zu tun, die extrem zentralisiertbetrieben werden und außerdem sehr aufwendig zu realisieren sind. Von derPlanung bis zur Umsetzung vergehen zehn bis zwanzig Jahre oder mehr. Dieweltweit älteste Baustelle eines Atomkraftwerkes steht bei Washington und istgenauso alt wie ich, 37 Jahre. Erneuerbare Energien arbeiten dagegen eherdezentral, was sie auch schneller umsetzbar macht. Im Übrigen spreche ichlieber von erneuerbaren Energien als von Alternativen Energien.
Frage: Warum?
Thomas Seltmann: Weil das Letztere suggeriert, wir hätten eineWahl. Die haben wir aber langfristig gar nicht, was auch die Befürworter vonAtomenergie und anderen fossilen Energieträgern offen zugeben. Auf Dauerbleiben uns ohnehin nur die erneuerbaren Energien. Warum halten wir uns alsomit den Auslaufmodellen von Gestern auf?
Frage: Lassen Sie uns eventuell an diesem Punkt einmal über eineErfolgsgeschichte rund um die – expressisverbis – erneuerbaren Energien sprechen, nämlich die Einspeisetarife, dieim Jahre 2000 von der damaligen rot-grünen Bundesregierung per Gesetzeingeführt wurden. In seinem neuen Buch “APresidential Energy Policy“ fordert Mike Ruppert von Präsident Obama, dieEinspeisetarife auch in den USA einzuführen.4Wie sehen Sie das?
Thomas Seltmann: Das ist eine sehr nahe liegende Forderung, dienicht bloß von Mike Ruppert erhoben wird. Bei dem besagten Gesetz, das ganzgenau „Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien“ heißt, handelt es sich umdas weltweit erfolgreichste Programm zur Markteinführung der erneuerbarenEnergien. Es gab einen ungeheuren Schub dadurch und die BundesrepublikDeutschland wurde zum Technologieführer auf diesem Gebiet. Der Vorrang, von demdas Gesetz in seinem Titel spricht, war ein zweigeteilter: Erstens wurden dieStrombetreiber zur Abnahme des Stroms verpflichtet, der von Erzeugern ins Netzeingespeist wird. Und zweitens wurde eine Vergütung festgelegt, die so hochist, dass sich der Betrieb der Anlagen rechnet. Der letztgenannte Punkt war dieVorraussetzung dafür, Investitionen anzukurbeln. Seitdem boomen dieerneuerbaren Energien, die Hersteller expandieren und die Anlagekosten fallen..Das heißt, dass die Investitionskosten wiederum sinken und damit die künftigenStromerzeugungskosten. Inzwischen haben über 40 Länder ähnliche Regelungeneingeführt, wenngleich nicht ganz so konsequent wie hierzulande.
WesentlicheVorteile
Während an dieser Stelle desInterviews wieder die Kellnerin auftrat, notierte ich mir, dass die Schiffe,die mit den Touristenmassen Strom auf- und abwärts unterwegs waren, solcheNamen wie „Kapt’n Morgan“ und „Spree-Lady“ trugen.
„Die Schiffe hier sind leidernoch nicht solarbetrieben“, erklärte Thomas Seltmann. „Das wäre möglich undsolche Schiffe werden bereits gebaut. Ich weiß von kleineren Schiffen hier inBerlin, die solarbetrieben werden.“
Ich murmelte so etwas wie: „DerFortschritt ist ein langsames Tier“, woraufhin Thomas Seltmann zu erzählenanhob, dass die Grundlagen der Photovoltaik gegen Mitte des 19. Jahrhundertsentdeckt worden seien, und zwar von Alexandre Edmond Becquerel. Dessen SohnAntoine Henri entdeckte wiederum die Radioaktivität, wofür er 1903 denPhysik-Nobelpreis zugesprochen bekam. „Die Maßeinheit für Radioaktivität istbis heute nach ihm benannt“, so wurde mir erläutert, ehe Thomas Seltmann einenanderen Physik-Nobelpreisträger ins Spiel brachte: Albert Einstein. „1921 bekamEinstein den Nobelpreis für seine spezielle Relativitätstheorie, in der ernicht zuletzt auch das Wirkungsprinzip der Photovoltaik erklärte.“
Die Kellnerin brachte das Wasser,das Thomas Seltmann unterdessen bestellt hatte, und es ging weiter mit demInterview.
Frage: Könnten Sie einmal die wesentliche Unterschiede, um nicht zusagen: die wesentlichen Vorteile aufzeigen, die die erneuerbaren Energien imVergleich zur konventionellen Energiegewinnung besitzen?
Thomas Seltmann: Ein Vorteil, der manchmal als Nachteil dargestelltwird, ist die dezentrale Verteilung von Sonne und Wind. Die Energie sozusagenfrei Haus geliefert, überall dorthin, wo auch Energie verbraucht wird. Sieverringert also die Abhängigkeit von zentralen Energiequellen. DieInvestitionen in erneuerbare Energien lassen sich aufgrund ihrer Dezentralitätauch viel schneller umsetzen, wie die Praxis zeigt. Und der Umstieg auferneuerbare Energien kostet insgesamt weniger, je schneller er erfolgt, weil einerseitsdie Preise für die Technik schneller sinken, und andererseits die Verteuerungder fossilen Energien durch Verknappung weniger dramatisch ausfällt. Einwesentlicher Vorteil der erneuerbaren Energien ist deshalb auch die bessereKalkulierbarkeit künftiger Energiepreise – im Gegensatz dazu werden wir beiErdöl, Kohle, Erdgas und Uran in Zukunft gar nicht mehr vorhersehbarePreisschwankungen erleben. Wir wissen heute, dass die erneuerbaren Energien einVielfaches der Menge liefern könnten, als wir derzeit verbrauchen, und zwarpraktisch unendlich.
Frage: Sie heißen wohl nicht von ungefähr erneuerbare Energien?
Thomas Seltmann: Genau. Und weil wir es bei den konventionellenEnergien mit endlichen Rohstoffen zu tun haben, gilt: je mehr von ihnenverbraucht werden, desto teurer werden sie. Das erleben die Autofahrer ja anden Zapfsäulen der Tankstellen. Bei den erneuerbaren Energien verhält es sichgenau umgekehrt: die Kosten werden bei verstärktem Gebrauch geringer, zumBeispiel durch die Massenproduktion der dahinter stehenden Technik. Dort müssenwir hinkommen, und dafür muss das Investitionskapital bereitgestellt werden.
Frage: Aber wo soll denn dieses Kapital herkommen? Der Staatscheint damit beschäftigt, Banken en masse aus ihrer selbstverschuldeten Misereheraushauen zu wollen, indem er ungeheure Schuldentürme baut.
Thomas Seltmann: Was den Bereich der Energie angeht, ist sicheralles, was in den Ausbau der erneuerbaren Energien und der dafür nötigenInfrastruktur ausgegeben wird, gut investiertes Geld. Das gilt sowohl für dieNutzung heimischer erneuerbarer Energien als auch insbesondere in die Industrie,die das entsprechende Know-how entwickelt und weltweit vermarktet. Wir habenleider in den letzten zwanzig Jahren zu viel diskutiert und waren besonderspolitisch zu wenig mutig, gegen die überkommenen Interessen der fossilen undatomaren Energiewirtschaft anzugehen. Wir könnten viel, viel weiter sein, wennwir aus Einsicht rechtzeitig gehandelt hätten, wie das viele Engagierte ausBürgerinitiativen und auch weitsichtige Politiker seit zwanzig Jahren fordern.Wir müssen jetzt enorm viel aufholen, um die absehbare Verknappung der fossilenEnergien auszugleichen und den gleichzeitig weltweit steigenden Energiebedarfzu decken. Das aktuelle Tempo reicht dafür bei weitem nicht aus. Wir müssenpolitische und bürokratische Hürden abbauen und noch mehr Investitionsanreizesetzen. Das private Kapital ist ja vorhanden, es muss sich aber mehr rentieren,Solarkraftwerke zu bauen, als Kohlekraftwerke zu betreiben.
Frage: Was mich auch noch interessieren würde, wäre die Frage, obdie erneuerbaren Energien ohne Weiteres im Transportwesen und in derLandwirtschaft einzusetzen sind, um die eklatante Abhängigkeit, die in diesenBereichen von den fossilen Brennstoffen vorherrscht, aufzulösen?
Thomas Seltmann: Der Verkehrsbereich ist heute zu neunzig Prozentvom Erdöl abhängig und verbraucht mehr als die Hälfte des gesamten weltweitverbrauchten Erdöls. Die ganze Automobilindustrie ist vollständig auf Erdöleingestellt und bei den Alternativen aus dem Versuchsbereich und vereinzeltenKleinserien kaum heraus. Aus unternehmerischer Perspektive kann ich das sogarverstehen, denn wenn wir das Beispiel Elektroauto nehmen: DieAutomobilindustrie muss hier ihre gesamte Prozesskette, von der Entwicklungüber die Produktion über den Vertrieb, Service und Entsorgung auf ein völligneues Konzept, eine ganz andere Technologie umstellen. Wir tauschen hier janicht einfach eine Spritsorte gegen eine andere aus. Und dann braucht man aucheine ganz andere, zusätzliche Infrastruktur für die Versorgung der Autos. AmEnde müsste vielleicht in Zukunft jeder Parkplatz mit einer Steckdoseausgestattet sein. Eine ganz andere Frage ist die der Landwirtschaft – dieindustrielle Landwirtschaft –, die heute vom Dünger bis zur Landmaschine ohneErdöl und Erdgas gar nicht denkbar ist. Es gibt aber längst Konzepte undPraxiserfahrung mit einem ertragreichen und nachhaltigen biologischen Landbau.Nur der wird langfristig die Menschen ernähren können.
Frage: Was mir nicht minder interessant erscheint, ist eine kurzeErörterung des Solarprojektes in der Saharawüste, das dieser Tage in Schwungkommt. Wie fällt Ihr Urteil diesbezüglich aus?
Thomas Seltmann: Das Desertec Projekt, das die Münchener Rückgerade in die Medien gebracht hat, soll in der Sahara solarthermischeKraftwerke bauen, um dort Solarstrom für Europa zu erzeugen. Ich finde eshöchst sinnvoll, in Nordafrika Solarkraftwerke zu erreichen, vor allem um diedortigen Ballungsräume mit Energie zu versorgen. Wenn wir aber den Strom nachEuropa transportieren, verzichten wir auf den Vorteil der Dezentralität undVersorgungssicherheit mit heimischer Energie. Ich wäre dafür, dass wir unsereProbleme vor Ort lösen. Aber natürlich ist ein riesiges Solarkraftwerk in derSahara ein spektakuläres Projekt und für die Medien interessant. Deshalb wirdsoviel darüber berichtet. Der Charme der erneuerbaren Energien ist für michaber gerade das Unspektakuläre: Jede Solaranlage auf einem Hausdach verändertunser Energiesystem.
Frage: Ein weiterer Punkt, den ich mit Ihnen besprechen möchte, umsozusagen auch diesen Kreis zu schließen, wäre das häufig vorgebrachteArgument, dass diejenigen, die sich für den Ausbau von erneuerbaren Energienstark machen, Ideologen seien. Dieses Argument kommt besonders gerne vonBefürwortern der Atomtechnologie, oder?
Thomas Seltmann: Seltsamerweise kommt der Ideologievorwurf von dengrößten Energie-Fundamentalisten. Immer wenn die Atomlobbyisten mit den Faktenkonfrontiert werden, weichen sie auf die Ideologiediskussion aus. Und siewiderlegen sich selbst. Die deutschen und französischen AtomkraftwerksbetreiberE.ON und EDF haben die britische Regierung aufgefordert, den Ausbau dererneuerbaren Energien auf 30 Prozent zu beschränken, damit sie neueAtomkraftwerke wirtschaftlich betreiben können. Der Konflikt ist also keinideologischer, sondern ein ökonomischer. Die Atomindustrie hat bisher keineinziges ihrer Versprechen gehalten, sämtliche Probleme der Technologie sindfünfzig Jahre nach ihrer Einführung ungelöst, nämlich die Sicherheit derKraftwerke, die Entsorgung der Abfälle und die Versorgung mit Brennstoffen, diebereits knapp geworden sind, bis hin zur Proliferation, also der Möglichkeit,Atomwaffen herzustellen. Und Atomenergie deckt nur zwei Prozent des weltweiten Endenergieverbrauchs. Das istnicht mehr als eine Nischentechnologie für Luxusverbraucher. Nur zwei Länder,die USA und Frankreich, erzeugen und verbrauchen knapp die Hälfte des gesamtenAtomstroms.
Frage: Warum ist das so wenig bekannt?
Thomas Seltmann: Die Atomindustrie konnte sich als Schreinrieseetablieren. Sie kennen doch sicher diese Figur aus Michael Endes Geschichte vonJim Knopf?
Frage: Ja, das ist diese eigenartige Figur, die unwahrscheinlichgroß erscheint, wenn man sich sehr weit von ihr entfernt befindet. Je näher manihr kommt, desto kleiner wird sie, bis aus dem Riesen eine Zwergengestaltgeworden ist, stimmt’s?
Thomas Seltmann: Genau das ist der Fall. Und genau so verhält essich auch mit der Atomtechnologie. Wenn man sie sich näher anschaut, besitztsie energiewirtschaftlich keine Relevanz. Es ist die komplizierteste je vonMenschen erfundene Technologie und leider zugleich diejenige mit dem größtenSchadenspotenzial. Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Werner Müller, derzuvor selbst aus der Atomwirtschaft kam, hat den deutschen Ausstieg im Bundestagwörtlich damit begründet, dass „Schadensfälle eintreten könnten, die diesesLand unbewohnbar machen.“
Frage: Wo wir gerade ebenschon bei den populären Vorwürfen waren, die erhoben werden: ein Vorwurf, derebenfalls häufig auftaucht, ist der, dass die Vertreter des Peak-Oil-Szenariosletztlich Propagandisten der Ölindustrie seien, quasi verkleidet. Wenn manannimmt, dass die Ölindustrie an hohen Preisen ihres Produkts interessiert ist,und fernerhin, dass die “Peak-Oiler“ hohe und höhere Ölpreise voraussagen,ergibt sich eine gewisse Schnittmenge zwischen beiden Gruppen. Woran würden Siedie Differenzen festmachen, die etwas tiefer im Detail verborgen sind?
Thomas Seltmann: Die Ölindustrie kann nicht das geringste Interessedaran haben, die Glaubwürdigkeit der Peak-Oil-Analysen zu unterstützen. Dennwenn den Verbrauchern und der Politik klar ist, dass die Verknappung absehbarist, wird der Umstieg auf Alternativen viel schneller stattfinden, als dasaufgrund der Verfügbarkeit unausweichlich wäre. Ein schneller Umstieg drücktauch den Preis wegen der sinkenden Nachfrage. Beides widerspricht denInteressen der Ölmultis.
Frage: Und was ist eigentlich von den Argumenten der"abiotischen Theorie" zu halten? Wäre es der Zukunftsfähigkeit derMenschheit wegen nicht etwas zu riskant, um auf diese Karte zu setzen?
Thomas Seltmann: Die so genannte abiotische Ölentstehung, also eineTheorie, nach der das Erdöl nicht aus Plankton und Pflanzen entstand, sonderndurch bestimmte Prozesse im Erdinneren gebildet wird, taucht immer wieder auf –weniger in wissenschaftlichen Kreisen, sondern vor allem inVerschwörungsdiskussionen. Nach meinen Recherchen handelt es sich dabeitatsächlich lediglich um eine Theorie, die in der Praxis bisher nicht bestätigtwerden konnte.
Damit war das Interview an dieserStelle allmählich beendet, man zahlte und bedankte sich für die freundlicheBewirtung, woraufhin Thomas Seltmann zu seinem nächsten Termin radelte, währendich an den vielen Straßencafés vorbei Richtung Weidendammer Brücke zog, um wiederin die S-Bahn zu steigen.
1 Thomas Seltmann: „Photovoltaik: Strom ohne Ende.Netzgekoppelte Solarstromanlagen optimal bauen und nutzen“, Solarpraxis AG, 4.,vollständig überarbeitete Auflage 2009, 208 Seiten. Siehe des Weiteren auchThomas Seltmann: „Noch schneller viel mehr. Die fossile Energiewirtschaft vordem Scheitelpunkt Teil 2“, ein Überblickstext zu Erneuerbare Energienveröffentlicht in „Der Gebäude-Energieberater“, GEB, Fachmagazin fürEnergieberater, April 2009, unter: http://service.gentnerverlag.de/download/pdf/geb/Seltmann2.pdf
2 vgl. Michael C. Ruppert: “A Presidential Energy Policy. Twenty-fivePoints Addressing the Siamese Twins of Energy and Money”, New World Digital, Los Angeles, 2009,Seite 120: “However, future scenarios for global coal consumption are cast into doubt by two recent European studies on worldcoal supplies. Thefirst, Coal: Resources and Future Production (PDF 630KB), published on April 5 by theEnergy Watch Group, which reports to the German Parliament, found that globalcoal production could peakin as few as 15 years. This astonishing conclusion was based on a carefulanalysis of recent reserves revisions for several nations.” Die dazugehörige Quelle: “Peak Coal: Sooner than you think” von Richard Heinberg; The Energy Bulletin, 21.Mai, 2007 unter: http://www.energybulletin.net/node/29919 Vergleiche hierzu auch “Peak coal by 2025 sayresearchers” by Dr. Werner Zittel and Jörg Schindler;The Energy Bulletin, March 28,2007. http://www.energybulletin.net/node/28287
3 vgl. Jeremy Leggett: “E.ON and EDF have drawn the battle lines betweenrenewables and nuclear”, The Guardian, 13. Juli 2009, unter: www.guardian.co.uk/environment/cif-green/2009/jul/13/energy-renewableenergy
4 vgl. Michael C. Ruppert: “A Presidential Energy Policy”, Seite 156 –157, 196 und 200.