Im Vorfeld der Bundestagswahlen Ende September werden gesellschaftliche Entwicklungen offenbar, die zunächst verwirrend, aber letztendlich folgerichtig auf uns zukommen. Diese Entwicklungen verändern die Art und Weise, wie wir uns und unsere Umwelt definieren.
Dirk Kurbjuweit schreibt im aktuellen „Spiegel“ darüber, dass Fiktion und Realität im aktuellen Wahlkampf immer mehr verwischen. Da agiert Hape Kerkeling alias Horst Schlämmer – oder ist es Horst Schlämmer alias Hape Kerkeling – auf einem Podium so, als sei er Kanzlerkandidat. Er wird von Journalisten seriös befragt.
Martin Sonneborn (Ex-„Titanic“) führt Wahlkampf für „Die Partei“. Diese hatte sich offiziell für die Teilnahme an der Bundestagswahl beworben, wurde aber vom Bundeswahlleiter zurückgewiesen.
Die eigentlichen Parteien – allen voran Vera Lengsfeld von der CDU – übertreffen die Komik der fiktiven Parteien mit Ihrer Dekolleté-Kampagne noch. Und nicht vergessen sollte man die Piratenpartei, die - in einer StudiVZinternen Umfrage – 30 Prozent der StudiVZ-Mitglieder, die an einer Vorab-Umfrageteilgenommen haben, ihre Stimme geben würden.
In vielen Grund- und weiterführenden Schulen gehört das Rollenspiel – meist in Form von Theatervorführungen – zum guten Ton. Man tut so, als ob man jemand anders ist. Das macht man auch, wenn man Wii spielt. Da gibt es Avatare, mit deren Hilfe man mit anderen Avataren harmlos verstecken spielen kann (im Grundschulalter: Spiel „Animal Crossing“). Ab dem Jugendlichenalter finden die Rollenspiele häufig in Form von Ballerspielen statt. Man kann auch bei Richterin Barbara Salesch mitspielen oder sich in Chats andere Identitäten zulegen. Man kann von einem anonymen Server aus mit anonymer Identität auf beliebige Leute per Chat oder E-Mail eindreschen, ohne dass der Adressat sich dagegen wehren kann.
Mit anderen Worten: Früher hatte man eine Identität. Heute hat man zwei oder drei (mindestens). Welche ist gespielt, welche ist echt? Ist Borat echt? Ist Horst Schlämmer wirklich unecht? Akzeptieren wir ihn nicht als echt, wenn Journalisten ihm seriöse Fragen stellen? Und was ist mit den Politikern? Zum Politikerdasein gehört ein erhebliches schauspielerisches Talent. Angela Merkel möchte im TV-Kanzlerduell lieber sitzen, sagen die Berater. Und Frank Walter Steinmeier möchte lieber stehen. Aber vielleicht möchte Angela Merkel – wenn man sie persönlich fragen würde – lieber auch stehen? Ist das nicht ein groteskes Theater?
Die Piratenpartei liegt momentan im Hinblick auf die Bundestagswahl - nach einer seriösen Umfrage - bei 2 Prozent (Handelsblatt). Damit würde sie mehr Stimmen erhalten als alle anderen kleinen Parteien zusammen. Noch vor einem Monat kam die Piratenpartei lediglich auf 1 Prozent. Wenn die etablierten Parteien weiterhin so einen seltsamen, nicht anfassbaren Wahlkampf liefern, dürfte die Piratenpartei weiter zulegen können.
Wirtschaftskrisen sind immer auch Krisen der Gesellschaft, aus denen sich etwas Neues erhebt. Wir erleben die zunehmende Verwischung zwischen Realität und Fiktion. Warum nicht einen Avatar wie Horst Schlämmer wählen? Oder ersatzweise eine Partei ohne Programm? Also: Die reale Welt wird immer abstruser. Passt es da nicht hervorragend, dass man sich dieser aus den Fugen geratenen Welt durch einen Identitätswechsel entziehen kann?
In der Welt der Ballerspiele und Chatrooms gibt es eins garantiert nicht: politische Wahlen.
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