Von Martin Zenhäusern
Eine kurze Rückblende: Vor 20 Jahren ist die BerlinerMauer gefallen. Zur Erinnerung: Es ist nicht am 8. November 1989entschieden worden, von wem auch immer, dass am folgenden Tag die Mauerabgerissen werde. Am 9. November 1989 brauchte es nur noch denberühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der Unmut überein unmenschliches und bevormundendes System war schon jahrelang immergrösser geworden und schliesslich derart angeschwollen, dass er dieMauer und das dahinterstehende System hinwegfegte. Es war also Zufall,dass gerade am 9. November 1989 die Mauer fiel. Wenn nicht dann, sowäre sie eben etwas später gefallen – sie war schlicht nicht mehr zuhalten. Auch hier hat sich das geflügelte Wort bewahrheitet: „Man kannalle Menschen für eine kurze Zeit für dumm verkaufen. Man kann vieleMenschen für einige Zeit für dumm verkaufen. Aber man kann nicht alleMenschen immer für dumm verkaufen.“
Ein gesellschaftlicher Stresstest steht bevor
Washat dies mit uns zu tun, Ende 2009? Wer mit Unternehmern undFührungskräften spricht, mit gebildeten und einfachen Menschen, mitÄlteren und Jüngeren, stellt eine Gemeinsamkeit fest: Niemand ist mitder heutigen Situation in Wirtschaft, Politik und Gesellschaftzufrieden. Dabei sind diese Menschen nicht die üblichen Miesmacher unduntätigen Kritiker, sondern Menschen, die ihre Aufgabe ernst nehmen undsich Gedanken über die nähere Zukunft machen. Der Unmut äussert sichdarin, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter aufgeht;dass die Sozialsysteme teilweise auf tönernen Füssen stehen; dass vielejunge Menschen Schwierigkeiten beim Eintritt ins Berufsleben haben;dass die gewaltige Vermögensumverteilung wenig mit der tatsächlicherbrachten Leistung der „neuen Reichen“ zu tun hat; dass vieleselbsternannte Meinungsführer stumm bleiben; dass die Medien nur überSymptome, nicht jedoch über die Ursachen der Malaise berichten.
Diesen Unmut sollten wir ernst nehmen, zumal unssehrwahrscheinlich im Frühjahr 2010 ein grösserer gesellschaftlicherStresstest bevorsteht. Wenn die Grossunternehmen aus der Finanzbranche,weltweit, nicht nur hierzulande, bei der Verteilung ihrer Boni eingesundes Augenmass vermissen lassen, dann dürfte dies zu erheblichensozialen Spannungen führen. Was bisher an Einsicht oder Mässigung vondieser Seite zu hören war, gibt wenig Anlass zur Annahme, dass dieTop-Manager endlich begriffen hätten, dass sie von ihrem hohen Rossheruntersteigen müssten. Als ob sie dem Volksmund Recht geben möchten ,der sagt: Auf dem hohen Ross sitzen oft die schlechtesten Reiter. Diesefehlende Einsicht könnte, wenn es wirklich dumm läuft, zum Tropfenwerden, der das Fass des Unmutes zum Überlaufen bringen könnte. Dievermeintlichen Sieger der Umverteilung könnten so ganz schnell zu deneigentlichen Verlierern werden.
„Eine Million für mich! Der Rest für alle!“
Kannder Mensch überhaupt dazu bewogen werden, auf etwas zu verzichten, vondem er glaubt, dass es ihm zustehe? Wohl kaum. Solange zum Beispiel einArbeiter in den USA lieber in einer halben Bruchbude arbeitet und aufeinen neuen Anstrich seiner Bürowände verzichtet, weil diese Ausgabenzulasten des Bonus’ gehen, dann sind neue Regulierungen kaumdurchsetzbar. Und gutgemeinte Vorschläge wie zum Beispiel die1:12-Initiative auch nicht der Weisheit letzter Schluss (die1:12-Initiative will, dass niemand in einem Jahr weniger verdient alsein Top-Manager in einem Monat). Solche Vorschläge können die Mauern inden Köpfen der Betroffenen nicht durchdringen, schon gar nichtabreissen. Solange sich in unserem amerikanisch geprägtenWirtschaftssystem die Formel Hohes Salär = erfolgreicher Mensch = guterMensch hält, wird niemand auf ein disziplinierendes System umschwenken.Deshalb müsste ein anderer Ansatz gewählt werden: Hohes Salär = Beitragzum Ganzen = persönliche Reputation.
Stellen wir diesen Ansatz einmal anhand einesfiktiven Rechnungsmodells vor. Die „Weltbankvereinigung“, dasEntscheidungsgremium und Sprachrohr aller weltweit tätigen Banken,beschliesst folgendes: Ein Mitarbeiter kann maximal eine Million Dollarpro Jahr verdienen, Boni inklusive. Dieser Maximalbetrag wirdkaufkraftbereinigt auf die verschiedenen Länder angewendet. Jedereinzelnen Bank ist es jedoch freigestellt, höhere Saläre an ihreLeistungsträger auszurichten. So verdient der Top-Banker Peter Geniusin diesem Jahr fünf Millionen Dollar. Eine Million nimmt er mit nachHause. Die restlichen vier Millionen wandern in einen oder mehrereTöpfe, die er selbst bestimmen kann: zum Beispiel für Bildung,Entwicklungsprojekte, Forschung an nachhaltigen Produkten etc. DieseTöpfe werden unabhängig und treuhänderisch verwaltet. Peter Genius istalso nicht mehr von egoistischen Motiven getrieben, sondern leisteteinen wesentlichen Beitrag an die Gesellschaft, die es ihm schliesslichermöglicht hat, seine privilegierte Stellung einzunehmen. Jeerfolgreicher er ist, desto mehr profitiert die Allgemeinheit – und erdazu. Zwar nicht mehr in pekuniärer Form, sondern in Form vonpersönlicher Reputation und öffentlicher Anerkennung.
Ideen- statt Geld-getrieben
DieseForm des Salary Cap kann auf die Bedürfnisse der einzelnen Branchenangepasst und stufengerecht eingeführt werden. Um beim Beispiel Bankenzu bleiben: Wer sich nicht an diese Regel hält, wird von der„Weltbankvereinigung“ auf die schwarze Liste gesetzt. Bankkunden,Anleger und Pensionskassen können also beurteilen, ob sie mit einersolchen Bank, die von Egoismen statt von übergeordneten Interessengetrieben wird und deshalb risikoanfälliger sein dürfte,zusammenarbeiten wollen. Da das Salär als Abwerbungsmotiv wegfallenwürde, könnten die Arbeitgeber andere „personal assets“ anbieten, umLeistungsträger zu halten und Talente zu gewinnen, z.B. bezahlteSabbaticals oder unbezahlte Auszeiten mit garantierterWiedereinstellung (was jeder vernünftige Arbeitgeber seinenLeistungsträgern ohnehin offerieren würde). Wer bei diesemEntlöhnungssystem durchschnittliche Leistungen erbringen würde,erhielte sein Salär ohne Bonus und Privilegien. Wer sich trotzdemunterbezahlt fühlen sollte, hätte immer noch die Wahl, sichselbstständig zu machen oder ein Unternehmen aufzubauen. Wobeifestzuhalten ist, dass Selbstständige und Unternehmer in der Regelnicht Geld-, sondern Ideen-getrieben handeln.
Diese Form der Bezahlung würde zu völlig anderenDenkmustern und Verhaltensweisen führen, weil der persönliche Erfolgnicht mehr allein am Salär gemessen, sondern breiter gefächertwahrgenommen würde. Statt masslosem Egoismus hätten wir gesundenEgoismus. Einzelinteressen und übergeordnete Interessen könnten untereinen Hut gebracht werden. Doch schon hören wir die Kritiker sagen:„Ganz nette Idee, aber...“ Und dann folgen fünfhundertsiebenundachtzigGründe, warum das nicht funktionieren kann. Gegenargument:
Haben wir’s schon mal ausprobiert? Warum sollten wir diesen Versuch nicht wagen?
Weniger Hierarchie – mehr Leistung
Eineweitere Mauer wird in den nächsten Jahren fallen: zementierteHierarchien. Ein Grund dafür ist, dass Fortschritt heute kaum nochortsgebunden ist. Fortschritt kann überall entstehen. Dies hat zurFolge, dass der Fortschritt mehr und mehr in den Händen vielerEinzelner liegen wird, die projektbezogen temporäre Unternehmen bilden,und immer weniger in den Händen dominanter und statischer Unternehmen.Kurz gesagt: Der Fortschritt demokratisiert sich. Die neue Form vonInnovation und Wertschöpfung heisst Peer-Production: Produktion unterGleichgestellten. Deshalb werden Arbeitsbeziehungen in Zukunft wenigerhierarchisch sein. Dies wird die traditionelle Unternehmensführungsowie bestehende Business-Modelle markant verändern. Ebenso dürfte dieUS-Mono Management-Kultur zu einem Auslaufmodell werden.
Der Aktionär als qualifizierter Mitarbeiter
Undwas bedeutet dies im Hinblick auf die Saläre? Der künftige Mitarbeiterwill nicht mehr einfach nur einen Bonus, er will eine gerechteBeteiligung für seinen Beitrag am Gesamten. Dies wird dazu führen, dasswir völlig andere Unternehmensbeteiligungen haben werden als heute. DerAktionär tritt vermehrt als qualifizierter Mitarbeiter direkt insUnternehmen ein. Er will einen Beitrag zu einer nachhaltigen undtransparenten, beeinflussbaren und kontrollierbarenUnternehmensentwicklung leisten, und zwar in einem Unternehmenüberschaubarer Grösse, weil nur dann Selbstverantwortung und dieBereitschaft zur Leistung im Einklang sind. Gut geführteFamilienunternehmen werden zu den künftigen Gewinnern gehören, da siebereits heute diese Ansprüche der nachkommenden Generation erfüllen.Das kluge Familienunternehmen kann also in Zukunft qualitativ wachsen,wenn es ein familiäres, sprich auf Vertrauen basierendes Umfeld bietet,in dem die konkrete Leistung mehr zählt als Titel und Hierarchie. Damitkönnen wir den Kreis zum eingangs Gesagten schliessen: Wenn wir Mauern,gerade die im Kopf, abreissen, schwindet der Unmut. Und wir schaffenPlatz für Zuversicht und neue Ideen.
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Martin Zenhäusern
MartinZenhäusern, Unternehmer und Ratgeber für Führungskräfte. Im Oktober2009 ist seine neue Publikation erschienen: „Warum tote Pferde reiten?Wie uns die Net-Generation zwingt umzusatteln“. „Als Berater vonEntscheidungsträgern aus Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kulturhat er ein feines Gespür für Veränderungen entwickelt, die zuerst nurhinter vorgehaltener Hand besprochen werden, bevor sie plötzlich undwie selbstverständlich zum breit diskutierten öffentlichen Themawerden“ (Orell Füssli über den Autor). Zenhäusern ist zudem Autor von„Chef aus Passion“ und „Der erfolgreiche Unternehmer“. Gründer undInhaber der Zenhäusern & Partner AG sowie der Zenhäusern AkademieAG, beide in Zürich. www.zenhaeusern.ch.