Prag ist eine gemütliche Stadt. Ohne Euro und noch nicht so sehr an Brüssels Leine geht die Moldau-Metropole einen gemächlichen Gang. Noch ist die Welt in Ordnung in Tschechien.
Kaffee am Wenzelsplatz, Prag
So lange der Tscheche sein Pivo hat, ist die Welt in Ordnung. Pivo bedeutet Bier. Und kein Getränk wird im Geburtsland des Pils mehr geschätzt als der Gerstensaft. Dieser wird in Prag in zahllosen urigen Kneipen und Gaststätten ausgeschenkt.
Prag ist eine gemütliche Stadt. Ohne Euro und noch nicht so sehr an Brüssels Leine geht die Metropole einen gemächlichen Gang. Hier und da noch ein wenig unfertig, ein bisschen renovierungsbedürftig – manchmal riecht es sogar noch nach „Ostblock“. Dieser etwas muffige Geruch, der offenbar von alten sozialistischen Reinigungsmitteln herrührt, fühlt sich in der Nase heutzutage exotisch an. Erinnerungen an die Zeiten des eisernen Vorhangs werden wach.
Doch der imperialistische Schutzwall ist bekanntlich seit Jahren zerbrochen und statt sowjetischer Panzer ist der Wenzelsplatz nun fest in der Hand multinationaler Konzerne. Das hat der Schutzheilige Wenzel von Böhmen, nach dem dieser Ort 1848 benannt wurde, leider nicht verhindern können.
Bald ist es mit der tschechischen Gemütlichkeit vorbei. Die vielen kleinen Läden, der Einzelhandel wird es nicht mehr lange machen. Denn der Großangriff auf die tschechische Konsumzecke ist in vollem Gange. Alle Marken sind schon da: C&A und AXA, DM und H&M. Fehlt nur der Euro. Und der kommt in ein paar Jahren auch noch.
Damit ist die Urkneipe in Prag ist in akuter Gefahr. Land und Stadt an der Moldau stehen vor der totalen Mc Donaldisierung. Und wo früher noch das vertraute Geschirrklappern einer gemütlichen Gastwirtschaft zu vernehmen war, verklappt heute KFC verkokelte Hähnchenteile im Pappkarton ins Tschechenvolk. Das Pivo schlürfen sie fortan aus Plastikbechern. So schön kann freie Marktwirtschaft sein.
Die Tschechei ist schließlich kein Land, die Tschechen kein Volk, sondern das ganze Gebilde ist lediglich ein Markt. Und dieser Markt wird nun generalstabsmäßig aufgerollt.
Was die Russen mit ihren Panzern nicht schafften, schaffen nun Coca Cola & Co. Wehrten sich 1968 noch viele Tschechen gegen sozialistische Gleichmacherei, so sind sie der totalen Gleichschaltung durch den Westen nun schutzlos ausgeliefert. Widerstand zwecklos.
Von der Büroklammer bis zu Möbelhaus kommt alles aus der schönen neuen Welt. Da hat Einheimisches keinen Platz mehr. Tschechische Produkte sind in Prag allenfalls noch im Souvenirladen erhältlich - wie historische Relikte einer fernen Zeit.
Jeder Quadratmeter in Prag ist bereits aufgeteilt. Von der Autovermietung am Flughafen bis zum Kaffee in der Innenstadt: die neuen Besatzer wissen, wie der Markt tickt. Und wo der Tscheche noch gar nicht richtig weiß, was er eigentlich will, hilft geschicktes Marketing, um ihm die letzte Krone aus der Tasche zu quetschen.
Das alles hat natürlich auch seinen Vorteil: Prag unterscheidet sich immer weniger von einer x-beliebigen Großstadt des Westens. Ist es nicht einfach großartig, in Prag bei H&M zu shoppen? Ein völlig neues Shopping-Erlebnis! Auch C&A am Wenzelsplatz ist immer ein Besuch wert!
Da sitze ich nun, am Wenzelsplatz – in einem Cafe. Und – wie könnte es anders sein: Die Kaffee-Domäne ist natürlich voll in der Hand des italienischen Besatzers. Aber das akzeptiere ich noch. Besser ein Segafredo aus der Porzellan-Tasse, als Starbucks-Plörre aus Plastikeimern.
Während ich so das Treiben der Touristenströme beobachte, schwirrt mir die „Moldau“ des böhmischen Komponisten Bedřich Smetana durch den Kopf. Smetana komponierte das Stück Vltava (,Moldau‘)1874 bei fast völliger Taubheit. Am 4. April des folgenden Jahres wurde es uraufgeführt. Was für ein wunderschönes Werk. War früher eigentlich alles besser?