Der kanadische Investment Manager Marshall Auerback beschäftigt sich heute im Rahmen seiner Montags-Kolumne mit den wetteifernden Bestrebungen der US-amerikanischen Eliten, das soziale Sicherungsnetz in den Vereinigten Staaten zunichte zu machen. „Das wirkliche Problem ist, dass jene, denen es gut geht, keine staatlichen Eingriffe in Wirtschaftsangelegenheiten wollen, es sei denn, sie werden dadurch begünstigt.“
Von Marshall Auerback, Übersetzung aus dem Englischen: Lars Schall
Harold Meyerson liegt genau richtig: „Von all den Unterschieden, die heutzutage zwischen der Meinung der Eliten und der Massen in den USA bestehen, ist womöglich dies der größte: Die Eliten glauben nicht wirklich, dass wir uns immer noch in einer Rezession befinden. Oder es interessiert sie einfach nicht.“ Was noch ärgerlicher stimmt als das, ist die Tatsache, dass die gleichen Leute, die die größten Profiteure der großzügigen Gaben des Staates in den letzten zwei Jahren waren, nunmehr die „unverantwortliche“ und „unnachhaltige“ Fiskalpolitik des Staates lautstark schlechtmachen.
Die kollektive Amnesie und moralische Verderbtheit dieser Eliten ist wirklich verblüffend.
Weshalb haben wir derzeit ein Defizit von ungefähr 10% im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, wenn es vor drei Jahren noch weniger als 2% betrug? Die Gründe sind: Das Konjunkturprogramm Obamas, das TARP-Rettungspaket und eine verlangsamte Wirtschaft (was sich als Folge einer großen Finanzkrise ergab und nicht etwa, weil der Staat mit einem irrationalen und unverantwortlichen Ausgabenexzess begann). Eine verlangsamte Wirtschaft führt zu weniger Einnahmen (weniger Einkommen = weniger gezahlte Steuern, da die meisten Steuereinahmen auf dem Einkommen basieren) und zu erhöhten Ausgaben für das soziale Sicherungsnetz.
Bequemerweise wird in all dem Aufruhr, der um das Defizit veranstaltet wird, vergessen, wer die Begünstigten der staatlichen Gaben waren. Ganz gewiss waren es nicht die Arbeitslosen oder die überwältigende Mehrheit der Leute, die nicht in der Finanzdiensleistungsindustrie beschäftigt ist.
Und lasst uns aufhören mit der zurzeit vorherrschenden Memetik (die zuletzt in John Heilemanns Artikel “Obama is from Mars, Wall Street is from Venus” im New Yorker-Magazin hochgewürgt wurde), dass die Kosten der Finanz-Rettungspakete minimal sein werden dank der „erfolgreichen“ Maßnahmen, die das Finanzsystem „retteten“ (als ob es in seiner gegenwärtigen Inkarnation überhaupt wert wäre, gerettet zu werden). Mit der hervorstechenden Ausnahme von Simon Johnson versagen so ziemlich sämtliche Analysten, wenn es darum geht, hervorzuheben, dass der Anstieg der öffentlichen Schulden binnen zwei Jahren von 40% auf 90% im Verhältnis zum BIP, die direkte Folge der Krise von 2008 darstellt.
Selbstverständlich hauen die Defizit-Terroristen auf diese Tatsache ein, billiger Weise dabei vergessend, welche untergründige Ursache für diesen Anstieg gegeben ist. Gleichsam verhalten sich die Journalisten, die darüber berichten, wobei Meyerson eine bemerkenswerte Ausnahme abgibt. In einer Marktwirtschaft, in der die meisten von uns arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, stellen die Bedrohungen, die von Pete Peterson und der ganzen Brigade an Defizit-Falken herrühren, einen wahren Zusammenstoß mit unserem Recht auf Arbeit dar. Wie mein Freund Bill Mitchell betont: „Die Neoliberalen unterminieren bewusst das Recht auf Arbeit von Millionen und zwingen sie in den Zustand der Wohlfahrtsstaats-Abhängigkeit, um dann damit zu beginnen, ihnen jene Almosen zu verweigern, die das System bereithält.“
Die Eliten (und besonders jene von der Wall Street), die diese staatlichen Ausgaben schlecht machen, sind mit einem Menschen zu vergleichen, der eine Person täglich mit fünf Packungen Zigaretten versorgt und dann die Tatsache beklagt, dass sich der Empfänger aufgrund von Verantwortungslosigkeit Lungenkrebs zugezogen hat.
Was wird mit dem Defizit geschehen, sollte sich die Wirtschaft endlich erholen? Obamas Konjunkturprogramm und die TARP-Rettungsmaßnahmen werden ungeachtet dessen in ein paar Jahren ohnehin verschwinden. Steuereinnahmen werden steigen und die Ausgaben für das soziale Sicherungsnetz werden fallen. Wir werden dann zurück beim „Normalzustand“ sein, und zwar mit einem Defizit bei 2-4%, je nachdem, wie stark die Wirtschaft ist – was dem entspräche, wo wir uns in den letzten 30 Jahren befanden, ausgenommen 1998-2001.
Tatsächlich wäre Vollbeschäftigung die beste „Finanzstabilitäts“-Reform, die wir in Kraft setzen könnten, denn bei einem Wachstum von neu geschaffenen Arbeitsplätzen kommt es zu einem höheren Wachstum der Einkommen und der damit korrespondierenden Fähigkeit, die Schulden bedienen zu können. Das heißt weniger Abschreibungen bei den Banken und damit korrespondierend weniger erforderliche staatliche Rettungspakete.
Fiskalische Einschränkungen werden das Defizit dagegen nicht verringern. Unseren Eliten scheinen zu denken, dass man einfach „verschwenderische Staatsausgaben“ und Löhne und damit private Einkommen kürzen kann, ohne dass es zu großen, sich gegenseitig verstärkenden Effekten käme, die die Dinge nicht erheblich verschlechterten. Es versteht sich, dass diese „verschwenderischen, unnachhaltigen“ Ausgaben niemals auf das Verteidigungsministerium zutreffen, bei dem wir stets in der Lage sind, ein paar Milliarden bereitzustellen, wann immer nötig. Prinzipien der „Bezahlbarkeit“ reichen nie bis zum Pentagon, so scheint’s.
Unsere Eliten, die Politik machen, scheinen auch die Auffassung des Internationalen Währungsfonds abzukaufen, dass die fiskalischen Multiplikatoren relativ niedrig sind und dass die automatischen Stabilisatoren (die das Defizit erhöhen, während das BIP sinkt) nicht die Kürzungen bei den Netto-Ausgaben überschwemmen werden, die sich durch die Einsparpakete ergeben. Die Beweislage sieht so aus, dass diese Anschauung falsch ist und eine Politik, die darauf gründet, wird eine generell geringere Wirtschaftsleistung verursachen, geringere Einkommen, mehr Bankrotte und mehr Arbeitslosigkeit (besonders, indem sie neue Teilnehmer, die frisch von der Schule kommen, einen soliden Start ins Arbeitsleben verweigert.)
Das wirkliche Problem ist, dass jene, denen es gut geht, keine staatlichen Eingriffe in Wirtschaftsangelegenheiten wollen, es sei denn, sie werden dadurch begünstigt Mit ihrer typischen Undankbarkeit droht die Wall Street damit, die Wahlkampfspenden für Obama und die Demokraten aufgrund der Vorschläge zu kürzen, die sie zur Regulierung des Finanzsektors vorlegten. Wie dem auch sei, wenn der Staat mit Rettungsmaßnahmen eingreift, steht Wall Street als Erster in der Schlange, den Hut in der Hand. Niemand will die eigentliche Marktdisziplin tragen müssen, wenn dies Verluste bedeutet. Jene am oberen Ende der Einkommensverteilung sind nicht gegen jede Art staatlicher Intervention, sondern häufig gegen solche staatlichen Interventionen, die dazu angetan wären, die Arbeiter stärker zu machen oder den Wettbewerb für private Unternehmen zu beleben (im Fall einer öffentlichen Wahlmöglichkeit bei der Gesundheitssystemreform zum Beispiel).
Vollbeschäftigung ist der wahre Wert, der Wirtschaftspolitik leiten sollte, nicht die erlogene Betonung von finanztechnischen Verhältnissen, die nur dem Finanzsektor in die Hände spielen. Irgendwie zweifele ich daran, dass dies das untergründige Prinzip ist, das unseren „Rat weiser Männer“ (“counsel of wise men”) leitet, der über die Zukunft der Sozialversicherung und des Gesundheitssystem hinter geschlossenen Türen berät, während der Rest von uns diese Problematik im Offenen debattiert.