Weder die Verleihung des Physik-Nobelpreises noch das „Übergeben“ eines sogenannten Friedensnobelpreises können wir Laien kaum nachvollziehen. Oft fehlt uns dazu das Verständnis. Dieser Artikel skizziert keine wissenschaftlichen Aspekte, vielmehr die faszinierenden Anwendungsmöglichkeiten, die der Superkohlenstoff Graphen bietet: im Alltag von Morgen!
Von Hans-Jörg Müllenmeister
Ein seit Urzeiten bekanntes Naturprodukt ist Ausgangspunkt für die Forschungsarbeiten der diesjährigen Physik-Nobelpreisträger Andre Geim und Konstantin Novoselov. Mit diesem Urstoff geht die Menschheit mehr als 7000 Jahre um, aber erst 1775 beschrieb Lavoisier diese elementare Substanz. 1% stecken davon in der Erdkruste und über 10% im menschlichen Körper. Gemeint ist der Kohlenstoff in seinen drei Erscheinungsformen oder Bindungsstrukturen: Diamant, Graphit und Fullerene; dagegen sind Ruß und Aktivkohle keine Kohlenstoffmodifikation, vielmehr mikrokristalline Formen des Graphits. Die Fähigkeit des Kohlenstoffs, lange Ketten oder Ringe zu bilden, befähigt das Element geradezu als Gerüstsubstanz biologischer Organismen. Die gesamte Biomasse der Erde enthält 300 Milliarden Tonnen gebundenen Kohlenstoff.
Das kommende Graphen-Zeitalter
Was ist aber das Epochale an dem neuentdeckten, Nobelpreis-geadelten Stoff Graphen, dessen „Flachwurzeln“ im atomaren Aufbau des Graphits stecken? Es sind seine verblüffenden Materialeigenschaften, die unsere Naturwissenschaftler und Ingenieure verzaubern. Experten sagen dem neuen Werkstoff eine grandiose Zukunft voraus: er sei der exzellente Halbleiter-Kandidat der Post-Silicium-Ära. Überschwenglich könnte man vom kommenden Graphen-Zeitalter reden, ähnlich wie etwa die Bronzezeit eine der prägenden Epochen der Menschheit war. Noch gibt es Probleme bei der Herstellung komplexer Schaltungen aus Graphen; noch gibt es kein mechanisches oder chemisches Verfahren, mit dem sich wenige Atome große Strukturen exakt fertigen lassen.
Graphenschicht: Sprößling der „Graphitmutter“
Ehe wir uns dem Wunderwerkstoff Graphen nähern, beschäftigen wir uns eine Weile mit seinem Ausgangsstoff, dem Graphit. Graphit gehört zur Kohlenstoff-Silicium-Familie; er hat atomar gesehen, plane Sechsringgitter. Im kristallinen Graphit liegen diese Gitterschichten übereinander: ein Millimeter Graphit besteht aus drei Millionen Lagen Graphen. Diese parallel verlaufenden ebenen Schichten heißen Basalebenen oder Graphen-Schichten. Eine Schicht hat fest verknüpfte Sechsecke aus Kohlenstoff-Atomen. Innerhalb dieser Ebenen herrschen starke Bindungskräfte zwischen den Atomen; indes besteht zwischen den Ebenen eine wesentlich schwächere Bindung. Diese extreme Richtungsabhängigkeit (Anisotropie) der Bindungskräfte im atomaren Bereich bewirkt auch nach außen eine deutliche Richtungsabhängigkeit der mechanischen, elektrischen und thermischen Eigenschaften des Graphits: leichte Spaltbarkeit entlang der Basalebenen, deutlich höhere Festigkeit entlang der Kristallschichten; thermische und elektrische Isolation senkrecht zu den Basalebenen, dagegen einer nahezu metallischen Leitfähigkeit entlang dieser Ebenen. Genauer betrachtet, besteht das Halbmetall Graphen aus einer zweidimensionalen Lage von Kohlenstoffatomen in Bienenwabenstruktur wie ein Maschendraht. Im Modellvergleich stellen die einzelnen Drähte die Bindungen zwischen den Atomen dar. Die sechseckigen Maschen sind exakt symmetrisch; die Knotenpunkte des Maschendrahtes entsprechen mikrokosmisch der Position der Kohlenstoff-Atome.
Tesafilm löst Graphen aus dem Graphitblock
In Zusammenhang mit dem Ablösen einer Graphenschicht aus einem Graphitblock machte ein technisches Klebeband wiederholt Reden von sich. Damit verbunden sind kuriose Geschichten. Als nämlich der technische Unglückswurm eines mißlungenen Wundpflasters versagte, vermarktet 1934 der umtriebige Hugo Kirchberg von Beiersdorf kurzerhand das Produkt unter dem Namen Citoplast als Klebfilm zum Flicken beschädigter Fahrradschläuche. Eben diesen Tesafilm entdeckte die Wissenschaft 1998 als effizientes Medium zum Speichern großer Datenmengen auf kleinstem Raum - wie eine CD-ROM. Auf einer handelsüblichen Tesa-Rolle lassen sich theoretisch Daten von 10 GByte speichern.
Und jetzt wird’s abermals spannend, denn die Nobelpreisträger Geim und Novoselov setzten den Tesafilm bei ihren Versuchen ein. Sie nutzten die Adhäsionskraft des Klebebandes, um die geringen sogenannten Van-der-Waals-Kräfte zwischen den einzelnen Graphenschichten zu überwinden. Dabei drückten sie ein Klebeband auf einen Graphitblock und zogen es schnell ab: herausgelöste Partikel blieben am Klebstoff haften.
Dieses Band lässt sich dann auf einen mit Fotolack beschichteten Silicium-Wafer (Si-Mikroplättchen) drücken und nochmals abziehen. Nach seinem Entfernen bleiben Partikel auf der Oberfläche der Fotolackschicht zurück. Nach Auflösen dieser Schicht haften schließlich einige Graphenpartikel an der Waferoberfläche. Die Graphenschichten sind dünner als 50 Nanometer und fast transparent. Die Präparation von Graphen ist inzwischen soweit gelungen, dass man einzelne Graphenlagen und ultradünne Graphitschichten erzeugen kann. Es gibt unterschiedliche Ansätze, Graphen zu gewinnen: mechanisch oder chemisch, aber auch durch kristallines Ausscheiden auf Siliciumcarbid.
Elektronisch unschlagbar
Eins steht jetzt schon fest: Die nur ein Atom dicke Schicht leitet Wärme besser als Kupfer und Diamant - übrigens die Kohlenstoffmodifikation mit der dichtesten Kugelpackung an C-Atomen. Ungewöhnlich hoch ist auch die Mobilität der Ladungsträger; sie bewegen sich durch Graphen so schnell wie durch kein anderes bekanntes Material. Gegen diese Graphenhalbleiter wären die heutigen Silicium-Chipkollegen lahme Schnecken: Computer in Graphentechnologie würden wesentlich schneller - also leistungsfähiger. Aufgrund seiner elektrischen und optischen Eigenschaften ist Graphen auch zum Bau von Touch-Screen-Monitoren geeignet. Auch der sagenumwobene Quantencomputer rückt in greifbare Nähe.
Graphen: preiswerter Nachfolger des teuren Indiums
Bisher vereint Indium mit Zinn als einzige Substanz zwei außergewöhnliche Materialeigenschaften: Transparenz in Dünnschichten und elektrische Leitfähigkeit. Als durchsichtige Indiumzinnoxid-Elektroden in Solarzellen, Flüssigkristallen und Flachbildschirmen massenhaft gefragt, verblieben von den Weltvorräten an Indium nur noch einige Tausend Tonnen. Allein 2005 verbrauchte die Hightechwelt 850 Tonnen des kostbaren Guts. Der Countdown für Indium läuft, sein Aus droht in wenigen Jahren. Schon frohlocken wir als Rohstofffans und spekulieren auf einen extremen Preisanstieg durch den zunehmenden Verknappungseffekt. Doch Vorsicht, es ist absehbar, dass Graphen hier dem etablierten Indium in Zukunft den Garaus macht, denn genau diese exquisiten Eigenschaften vereint das wesentlich preiswertere Graphen. Bereits jetzt haben Max-Planck-Wissenschaftler dazu ein neues Verfahren entwickelt. Die dafür notwendigen Filme aus Graphen haben eine Dicke von unter zehn Nanometer. Das sind 30 „atomar glatte“ Schichten.
Kunstnase auf Graphen gebettet
Genau wie natürliche Nasen, besteht ein chemischer Riechsensor aus zahlreichen Einzelsensoren, die jeweils einzelne Duftmoleküle erkennen. Statt wie bisher aberhundert duftspezifischer Mikrosensoren in einer „elektronischen Nase“, soll ein neuartiger chemischer Sensor die gleiche „Riechvielfalt“ entwickeln. Zudem ist diese künstliche Spürnase im Prinzip einfach aufgebaut. Sie besteht nur aus zwei Materialien: dem Graphen - eine nur atomdicke Kohlenstoffschicht - und aufgepfropften DNA-Abschnitten. Diese Erbgut-Moleküle als Sensoren besitzen elektronisch auswertbare Eigenschaften. Kommen nämlich Duftmolekülen mit ihnen in Kontakt, verändert sich der elektrische Widerstand der DNA-Stränge um bis zu 50 Prozent. Einfach genial - helfen doch diese Kunstnasen künftig, Krankheiten in Kliniken zu dedektieren, Giftstoffe in Industrieprodukten aufzudecken und Sprengstoffe an Grenzstationen aufzuspüren.
Noch steht die Entwicklung der Supernasen am Anfang. Zu Testzwecken tauchte man Transistoren auf Graphenbasis in eine Lösung einzelner Teilstränge von DNA-Molekülen: sie ordneten sich auf der Graphenoberfläche selbständig zu Mustern. Man untersuchte unterschiedliche Abfolgen der vier Basen, aus denen DNA-Moleküle bestehen. Zukünftig lassen sich selbst Mischungen von Duftstoffen erkennen.
Einerseits spüren also diese hyperempfindlichen Sensoren auf Graphenbasis sogar einzelne Moleküle auf, andererseits ist Graphen das dünnste bekannte Material, das für sämtliche Gase undurchlässig ist. Seine Kohlenstoffatome sind so dicht gepackt, dass es selbst das kleinste Gasatom, nämlich Helium zurück hält. Eine erstaunliche Eigenschaft, die schon bald bei absolut dichter Verpackung von Lebensmitteln eine Rolle spielen könnte. Wunderbar frisch gemahlener Kaffee im Graphenbeutel hält dann eine Ewigkeit sein Aroma. Auch in der Drogenszene könnte bald Graphen unter Dealer Furore machen. Selbst die besten Hundespürnasen könnten versteckte moleküldichte Drogenpakete nicht mehr erschnüffeln.
Utopische Konstruktionen
Nicht zuletzt kann Graphen sehr nützlich sein, Wärme abzuleiten, vor allem in der Nanotechnologie. Die nur eine Atomlage dünnen Kohlenstoffschichten leiten bis zu 5000 Watt pro Meter und Grad Wärme. Und das besser als es Diamant vermag, der bisher beste Wärmeleiter auf Erden. Graphenverstärkte Ultraleicht-Verbundwerkstoffe wären möglich, denn Graphen ist extrem reißfest. Schon schwärmen Raumflugingenieure von neuartigen Verbindungsbauten zwischen Erde und Satellitenumlaufbahnen: Während ein „im Himmel“ aufgehängter Stahldraht durch sein Eigengewicht mit 28 km „Höhe“ zerreißt, könnte ein Draht aus Graphen Tausend Kilometer hoch sein, ehe er seinen Geist aufgibt. Möglich, dass man in klerikalen Kreisen auf den lang ersehnten „Heißen Draht“ nach oben hofft.
Soeben schicken wir uns an, die 2-Billionengrenze an Staatsverschuldung zu überschreiten. Auch die 7-Milliardengrenze der Weltbevölkerung wird heuer überschritten. Aber wird sich dadurch etwas ändern? Wohl kaum. Verändern wird sich allerdings die Alltagswelt von Morgen: Durch das geniale Kohlenstoffgebilde Graphen!