Präsident des Nahost-Instituts in Moskau: Arabische Revolutionen werden sich über Jahrzehnte hinziehen. Ein schnelles Ende ist nicht in Sicht. Versinkt Arabien in Chaos und Anarchie?
Die Libyen-Krise dauert bereits seit drei Wochen. Seine Meinung über die Perspektive der arabischen Revolutionen äußerte der Präsident des Nahost-Instituts in Moskau, Jewgeni Satanowski, in einem Interview für RIA Novosti.
RIA Novosti: Herr Satanowski, wie lange werden die arabischen Revolutionen noch die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich ziehen?
Jewgeni Satanowski: Wenn wir die europäischen Erfahrungen berücksichtigen, dann würde ich sagen, höchstens 70 bis 75 Jahre. In Europa hatten die Unruhen 1914 begonnen und dauerten bis 1945. Wie in Europa ist in der arabischen Welt die Hochphase in 30 Jahren vorbei. Das ist mein Ernst.
RIA Novosti: Meinen Sie etwa, dass die Ereignisse wie in Libyen, wenn die Luftwaffe Städte bombardiert, noch 30 Jahre andauern werden?
Jewgeni Satanowski: Nicht unbedingt nur in Libyen, nicht unbedingt mit dem Einsatz der Luftstreitkräfte und nicht unbedingt werden dabei Städte zerbombt. Aber all diese Kriege, Rebellionen, Aufstände und Bürgerkriege - in Libyen handelt es sich um einen Bürgerkrieg – werden sich noch lange hinziehen.
Die ganze Region von Marokko bis zu Pakistan, von der Türkei, die wahrscheinlich demnächst auch von diesen Stimmungen erfasst wird, und bis zum eigentlichen Afrika. Auf den Nahen und Mittleren Osten wird sich diese Revolutionswelle nicht beschränken. Dabei wird dort das passieren, was Europa zwischen 1914 und 1917 durchleben musste. Solche Prozesse gehen nicht schnell vorüber.
RIA Novosti: Möglicherweise irre ich mich, aber nur in Libyen sind die Ereignisse ernsthaft. Selbst bei der Revolution in Ägypten kam es nicht zu so vielen Opfern.
Jewgeni Satanowski: Auf Ägypten wartet noch ein Kollaps, wenn es weniger Wasser vom Nil erhält. Das hat kaum jemand bemerkt, aber am 1. März lief ein internationaler Vertrag de facto aus, auf dessen Grundlage Ägypten und Sudan 90 Prozent des ganzen Wasserabflusses des Nils verbrauchten.
Aber sechs Länder, die am Oberlauf des Nils liegen, haben einen neuen Vertrag geschlossen und wollen Wasserkraftwerke errichten, weshalb der Abfluss nach Sudan dramatisch und nach Ägypten katastrophal zurückgehen wird. Ohne Erdöl kann man überleben, ohne Wasser aber nicht. Dadurch verschlimmert sich die Situation endgültig, so dass die bisherigen Unruhen wie eine Lappalie aussehen.
RIA Novosti: Wie ist die Situation in den anderen Nahost-Ländern? Im Irak ist ein Tag des Zorns geplant. In Bahrain bleibt die Lage angespannt, obwohl die Behörden behaupten, sie würden alles unter Kontrolle haben.
Jewgeni Satanowski: In Bahrain kontrollieren die Behörden die Situation in Wirklichkeit überhaupt nicht. Dort konnte bloß die erste Protestwelle dank einer Intervention seitens Saudi-Arabiens und Kuwaits unterdrückt werden. In Bahrain wollen die Schiiten, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, die sunnitische Dynastie, die bereits seit 200 Jahren regiert, stürzen. Dabei erhält sie Unterstützung aus dem Iran.
Dadurch steht die Zukunft des Stützpunktes der 5. US-Flotte auf dem Spiel. Dass sich die Lage in Bahrain verschlechtern wird, ist nicht zu vermeiden. Noch mehr als das: Die Spannungen werden sich auch auf die östliche Provinz Saudi-Arabiens ausweiten, deren Bevölkerung von den Schiiten massiv unterdrückt wird.
In Bahrain geht es mehr oder weniger liberal zu, weil die Einwohner die Spannungen nur teilweise spüren, denn sie leben in ihrem Königreich und nicht auf saudischem Territorium. Aber die Schiiten in Saudi-Arabien tun mir schon jetzt Leid - dort ist die Situation besonders explosiv.
Was Jemen angeht, so ist auch dort eine Explosion zu erwarten. Das Land wird sich wahrscheinlich spalten. Ich denke nicht, dass Saudi-Arabien diesen Kollaps überleben wird. Es wurde Anfang des 20. Jahrhunderts blutig und mit zahlreichen Todesopfern zusammengeschlossen, aber jetzt sind verschiedene Provinzen durch nichts außer vielleicht der Gewalt mieinander verbunden.
Sollte sich Saudi-Arabien spalten, dann wissen wir nicht, was mit den anderen Monarchien in der Golf-Region passieren könnte. Auch in den Maghreb-Ländern haben wir wohl noch nicht alles gesehen, denn die Situation in Libyen könnte leicht zu einem Beispiel auch für Algerien werden. Dann würde es keine Hindernisse für eine Wiederholung dieser Situation in Marokko geben.
Wir haben erst im Januar gesehen, wie Sudan friedlich zerfallen ist. Aber auch dort gab es viele separatistische Kräfte. Im Grunde waren die früher verbundenen Kolonien von den Briten und Franzosen unfähig, als ganze Staaten zu bestehen. Wer könnte garantieren, dass sich auch Nigeria, Kenia und viele andere Länder nicht spalten?
Das Gespräch führte Samir Schachbas.
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