Deutschland nach Expertenansicht schlecht auf Atomunglück vorbereitet. Feuerwehr-Verband: Schutz der Bevölkerung nicht gewährleistet. „Ich habe erhebliche Zweifel, ob das bestehende Krisenmanagement im Ernstfall auch nur ansatzweise funktionieren würde". - Im Fall einer Reaktorkatastrophe will EU die Grenzwerte heraufsetzen.
Deutschland ist nach Ansicht von Experten auf ein atomares Großunglück wie in Japan nur ungenügend vorbereitet. Der Katastrophenforscher Wolf Dombrowsky sagte dem Nachrichtenmagazin FOCUS, das Konzept zum Schutz der Bevölkerung sei teilweise „lückenhaft und grobschlächtig“. Es gebe „kaum geeignete Antworten“ auf Fragen, die sich nach einer Tragödie wie in Japan stellen. „Ich habe erhebliche Zweifel, ob das bestehende Krisenmanagement im Ernstfall auch nur ansatzweise funktionieren würde“, so Dombrowsky.
Es lägen zwar viele Pläne in den Schubladen, doch einen „wirksamen Bevölkerungsschutz vor atomaren Gefahren“ hätten die Verantwortlichen bislang mit „Tabu-Denken und politischer Rücksichtnahme“ blockiert. Deutschland brauche dringend „ein System, das die Menschen unverzüglich und ortsspezifisch vor atomaren Gefahren warnt“, so der Katastrophenforscher. Zudem fehle es an „Dekontaminations- und Behandlungskapazitäten“, wenn zahlreiche Menschen verstrahlt würden. Dombrowsky zu FOCUS: „Wenn nicht schleunigst realitätsnahe Konzepte erarbeitet werden, sehe ich für den Ernstfall schwarz.“
Ein radikales Umdenken forderte auch der Chef des Deutschen Feuerwehrverbands mit 1,3 Millionen Mitgliedern, Hans-Peter Kröger. Er sagte FOCUS, nach dem Unglück von Fukushima sollten deutsche Politiker endlich reagieren: „Ich verlange eine schonungslose Revision der Strukturen und Konzepte für einen funktionierenden Bevölkerungsschutz. Weitermachen wie bisher – das geht nicht.“
Der Vizepräsident des Feuerwehrverbands, Hartmut Ziebs, erklärte in FOCUS, bei bisherigen Notfallübungen in Atomkraftwerken seien nur Szenarien geprobt worden, die nicht annähernd den Unglücken von Tschernobyl oder Fukushima entsprächen. „Solche Dimensionen haben bei unseren Vorbereitungen nie eine Rolle gespielt.“ Ziebs kritisierte, dass dies „politisch so gewollt“ war. „Warum sollte man sich auf einen Fall vorbereiten, von dem es immer hieß, er werde niemals eintreten?“
Der Jenaer Kommunikationswissenschaftler Georg Ruhrmann forderte in FOCUS Politiker und Behörden zu einer ehrlichen Informationspolitik im Falle eines atomaren Störfalls auf. „Wenn Menschen sich falsch oder unvollständig aufgeklärt fühlen, nehmen ihre Ängste und ihr Misstrauen gegenüber dem Staat zu“, warnte Ruhrmann. „Viele Bürger könnten sich weigern, Entscheidungen der Verantwortlichen zu akzeptieren.“ Ruhrmann zu FOCUS: „Es wäre wichtig, dass die Behörden bereits vor einer möglichen Katastrophe mit den Menschen sprechen und sie über die Risiken aufklären.“
Im Fall einer Belastung von Lebensmitteln durch eine Reaktorkatastrophe in der EU würde Grenzwert hinaufgesetzt
Steigt die Belastung von Lebensmitteln in den EU-Staaten durch eine Reaktorkatastrophe dramatisch an, treten deutlich höhere Grenzwerte als die für den Tschernobyl-Fallout gültigen in Kraft. Wie das Nachrichtenmagazin FOCUS berichtet, sieht dies die weithin unbekannte EU-Verordnung 3954/87 vor. Sie wurde Ende 1987, 20 Monate nach dem Unglück von Tschernobyl, erlassen und zuletzt 1989 novelliert. Für Cäsium-137 erlaubt sie 400 Becquerel pro Kilogramm oder Liter Babynahrung, 1000 Becquerel bei Milchprodukten und 1250 Becquerel bei sonstigen Lebensmitteln.
Der derzeit auch von offizieller Seite verwendete Tschernobyl-Grenzwert liegt dagegen bei 370 Becquerel für Babynahrung und 600 Becquerel bei Lebensmitteln für größere Kinder und Erwachsene. Die entsprechenden japanischen Grenzwerte sind noch niedriger, nämlich 100 beziehungsweise 300 Becquerel.