Trittin wirft Regierung Bevormundung des Bundestags vor. - Bundestagspräsident fordert parlamentarische Abstimmung bei jedem Euro-Rettungseinsatz. Lammert leidet allerdings unter Realitätsverlust und findet eine starke Währung schlecht. Ohne Euro hätte Deutschland „einen hohen Preis für die souveräne Beibehaltung der D-Mark ab dem Herbst 2008 mit gnadenlosen Aufwertungen zahlen müssen“.
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) fordert, dass der Deutsche Bundestag künftig über jede einzelne Euro-Rettungsaktion abstimmt. Er stellt sich damit gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), die das Parlament nach der Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) über die einzelnen Eurohilfsaktionen höchstens noch konsultieren wollen. „Ich halte die Beteiligung des Bundestages bei konkreten Hilfszusagen in jedem neuen Einzelfall für unverzichtbar“, sagte Lammert im Interview mit der WirtschaftsWoche.
„Weil das Haushaltsrecht zweifellos tangiert wird, gibt es nicht nur die Notwendigkeit einer parlamentarischen Begleitung, sondern auch einer parlamentarischen Beschlussfassung beim ESM.“ Es sei völlig ausgeschlossen, dass die Bundesregierung Vereinbarungen mit Haushaltswirkungen treffe, ohne dafür vom Bundestag zuvor eine Zustimmung zu bekommen. Trotz aller öffentlichen Kritik am Euro verteidigte Lammert die Gemeinschaftswährung. Ohne sie, sagte der Bundestagspräsident der WirtschaftsWoche, hätte Deutschland „einen hohen Preis für die souveräne Beibehaltung der D-Mark ab dem Herbst 2008 mit gnadenlosen Aufwertungen zahlen müssen“.
Der Grünen-Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin kritisiert den Umgang der Bundesregierung mit dem Parlament in Sachen Euro-Rettung und Industriepolitik. Zur Errichtung des Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) verlangt Trittin in der WirtschaftsWoche: „Bei der Einführung des ESM darf die Bundesregierung das Haushaltsrecht des Bundestages nicht umgehen. Die Einrichtung bedarf eines Gesetzes, das Verhalten der Bundesregierung im ESM der parlamentarischen Kontrolle.“ Trittin widerspricht damit den Vorstellungen der Regierung, die den Bundestag nur einmalig über den neuen Mechanismus entscheiden lassen möchte, nicht aber bei einzelnen Auszahlungen. Er sieht einen „zähen Stellungskampf. Der Versuch der Regierung, das Parlament mit ihrem Handeln zu präjudizieren, ist ein institutioneller Konflikt, weniger ein parteipolitischer“.
Ebenso versuche die Regierung, das Parlament bei der Energiepolitik durch die Einrichtung der so genannten Ethik-Kommission zu bevormunden. „Die Absicht der Regierung, das Parlament an das Votum der von ihr handverlesenen Kommission zu binden, ist offensichtlich.“ Aber ob das Parlament sich das gefallen lasse, „ist eine Frage seines Selbstbewusstseins. Einen dauerhaft tragfähigen neuen Konsens kann es nur im Bundestag geben.“ Schon der Name des Expertengremiums sei irreführend: „Die Ethikkommission beschäftigt sich nicht so sehr mit ethischen, sondern mit sehr praktischen Fragen der Energiepolitik.“
„Die Namensgebung ist schon eine Vorgabe“, kritisiert auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow, der vergangenes Jahr mit seinem Buch „Wir Abnicker“ Aufsehen erregte. Er sei nicht gegen Expertenrat, wohl aber dagegen „dass sich alle an die Ergebnisse gebunden fühlen“. Zudem könne man Fachleute auch im parlamentarischen Verfahren anhören. „Als Abgeordneter will ich die Fragen stellen und mir nicht das Ergebnis vorsetzen lassen.“ Bülow beklagt in der WirtschaftsWoche, dass Weichenstellungen von fundamentaler Bedeutung für die gesamte Volkswirtschaft im Eiltempo den Bundestag passieren müssten: „Alles hat sich verschärft. Es kommen immer mehr Entscheidungen auf uns zu, die immer schneller durchgewinkt werden.“
Der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter, Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing, erkennt eine „Marginalisierung der Parlamente“. Gerade in der Atomdebatte sieht Oberreuter eine „Ausnahmezustandsmentalität. Das Parlament wird von der Regierung auf die Seite geschoben. Das von ihm verabschiedete Recht wird gebrochen oder umgangen.“
Politologe Werner Patzelt kritisiert in der WirtschaftsWoche, durch die sich verdichtende europäische Integration laufe der Bundestag Gefahr, „auf die bundespolitische Bedeutung deutscher Landtage abzusinken“. Für Debatten auf Augenhöhe mit der Regierung seien die meisten Parlamentarier nicht gerüstet. Ihnen „fehlt es heute an Statur“, klagt Patzelt. „Nicht wenige von ihnen kommen vom Hörsaal direkt in den Plenarsaal. Bei schönem Wetter können sie ihr Mandat schon erfüllen; doch wehe, wenn harte Zeiten kommen!“