Ein Streifzug durch den Dschungel moderner Forschung ist bisweilen vielversprechend und spannender als ein Krimi. In der Nukleartechnik gibt es - wenn Sie so wollen - in unterschiedlichen Einzeldisziplinen ehrgeizige gemeinsame Ziele: Es geht darum, schädlichen Atomabfall mit Neutronen zu bekämpfen, um damit die Halbwertzeit der radioaktiven langlebigen Abfallstoffe drastisch zu verkürzen.
von Hans-Jörg Müllenmeister
In der Nuklearmedizin trachtet man danach, die „Halbwertzeit“ eines schädlichen Krebstumors gegen Null gehen zu lassen - also diesen Bösewicht seinerseits in den sicheren Tod zu schicken - durch gezielte Partikel-Bestrahlung. Vorab: Die Halbwertzeit ist jene Zeit, in der die Hälfte aller Atome eines radioaktiven Elements zerfallen sind und sich damit auch die radioaktive Strahlung halbiert hat.
Aus niedrigen Metallen Edles zu schaffen, war eine Ursehnsucht der Menschheit. So suchten fieberhaft die Alchemisten seit der Spätantike nach dem Stein der Weisen, eine Substanz, mit der sich unedle Metalle in Gold verwandeln ließe. Johann Friedrich Böttger entdeckte zwar nicht das begehrte, statt dessen das Weiße Gold, genauer das Europäische Porzellan. Zum Glück, denn Friedrich I hatte zuvor auf den Quacksalber und selbst ernannten Goldmacher ein Kopfgeld ausgesetzt. Im 17ten Jahrhundert stand ja Porzellan ähnlich hoch im Kurs wie Gold. Bald schon wurde aber klar, dass ein Umwandeln eines Elements in ein anderes sinnlos, ja schier unmöglich war.
Eine Transmutation - spätlat. trasmutare für verwandeln - funktioniert nur bei exorbitant hohen Energien in kernphysikalischen Verfahren. Erst heute gelingt es in Kernreaktoren auch das edle Element Gold zu erzeugen, milligrammweise, aber es wäre extrem teuer. Das wäre doch etwas Besonders für Snobs: echtes „Atom-Gold“ für 100 Millionen Euro pro Gramm, frisch aus dem Reaktor.
Nach Fukushima sehen die AKW-Betreiber und die Politiker im Berliner Quasseltempel die Kernenergie mit etwas besorgteren Augen. Ein Kernproblem ist und bleibt das Entsorgen radioaktiven Abfalls. Bedenken Sie, dass weltweit jährlich 65.000 Tonnen Kernbrennstoffe anfallen. Allein in Deutschland lagen 5.000 Tonnen hochradioaktive abgebrannte Brennelemente. Außerdem etwa 50.000 Kubikmeter schwach- bis mittelaktive Abfälle, abgesehen von den noch stillzulegenden Atomkraftwerken. Besonders langlebige radiotoxische Bestandteile müssten bis zu einer Million Jahre sicher gelagert werden.
Die Crux ist, dass es keinen Königsweg gibt zur sicheren Endlagerung in der kontinentalen Erdkruste. Eine Isolation der Radionuklide vor der Biosphäre für Zeitspannen von zehn bis zwanzig Halbwertzeiten gibt es nur für kurzlebige Radionuklide; die langlebigen kehren irgendwann mit dem Gestein- und Wasserkreislauf in die Biosphäre diffus verteilt zurück; sie „bereichern“ damit den Schadstoffanteil des Biozyklus. Ungeachtet einer möglichen Lösung, setzt man die Produktion radioaktiver Abfälle unbeirrt weiter fort. Stellen Sie sich nur vor, die Alten Ägypter hätten zur Blütezeit ihrer Kultur statt Pyramiden schon Atomeier ausgebrütet, dann wären heute für ihre „strahlenden“ Hinterlassenschaften erst gut ein Viertel der Halbwertzeit für Plutonium 329 ( Hwz gleich 24100 Jahre) vergangen und wir wären hübsch verstrahlt.
Kernforscher - die Erben der Alchimisten - gelingt, woran jene verzweifelten: ein Element in ein anderes zu verwandeln. Allerdings sollen sich durch die Transmutation radioaktive Stoffe so verändern, dass diese Spaltprodukte nur einige hundert Jahre strahlen statt Jahrmillionen. Der Transmutation geht zunächst eine so genannte Spallation voraus: Ein Beschleuniger beschießt die Atomkerne schwerer Metalle wie flüssiges Blei mit energiereichen Protonen. Dadurch werden Kernbausteine also Nukleonen, z.B. Neutronen, herausgeschlagen. Diese Art von Neutronen reagieren dann mit den radioaktiven Kernen der Spaltprodukte. Sie werden so in andere Nuklide (Kernarten) umgewandelt - ein schrittweiser Prozess, der die Kerneigenschaften verändert, vor allem die Halbwertzeit verkürzt. Die Radiotoxizität der Kernabfälle reduziert sich um etwa Faktor 100. Das heißt, man braucht sie nicht mehr eine Millionen Jahren endlagern, sondern nur hunderte bis tausend Jahre. Ein schlichter, überschaubarer Zeitrahmen für die Menschheit!
Prinzipiell lassen sich alle Elemente durch Neutronenbeschuss umwandeln. Der Haken dabei ist der immense Aufwand. Er loht sich nur für extrem lang strahlende radioaktive Abfälle. Momentan versuchen die Physiker heraus zu finden, wie stark sie einen Kern beschießen müssen, damit er überhaupt ein Neutron einfängt. Und wie spaltet man ökonomisch die Kerne der Problemelemente Plutonium oder Neptunium, so dass ungefährlichere Elemente wie Jod und Technetium entstehen. Übrigens gehören Transmutationen von Atomkernen zum Repertoire des Kosmos. Neutroneneinfang-Prozesse in Sternen oder bei Sternexplosionen schaffen alle chemischen Elemente oberhalb von Eisen im Periodensystem der Elemente. Vielleicht gelingt es erst viel zu spät, langlebige radioaktive Isotope in großem industriellen Umfang in kurzlebige umzuwandeln.
Protonen bombardieren Krebstumoren
Kommen wir zu dem Aufräumkommando für versteckte Krebstumoren im Körper, den Miniprojektilen aus Protonen. Diese moderne Strahlentherapie ist nach der Operation die zweitwichtigste lokale Behandlungsform bei Krebs. Dabei werden entweder Röntgen- bzw. Gammastrahlen (Photonentherapie) auf den Tumor gerichtet oder neuerdings Teilchenstrahlen aus Protonen.
Eine Protonenbestrahlung kann vor allem bösartigen Tumoren den Garaus machen, die sich tief im Körperinneren verschanzen, etwa im Gehirn, der Wirbelsäule, der Prostata oder der Bauchspeicheldrüse. Diese wären chirurgisch kaum erreichbar und sind mit herkömmlicher Röntgenbestrahlung nicht zu bekämpfen; mehr noch: Chordome, das sind langsam und destruktiv wachsende Geschwülste der Wirbelsäule aber auch Aderhautmelanome, Aderhauthämangiome, Retinoblastome, Karzinome des Mund- und Nasenrachenraums.
Protonen (schwere Wasserstoff-Kernteilchen) - versus Photonen
Betrachten wir eine punktförmige Lichtquelle. Die Helligkeit einer von ihr bestrahlten Fläche nimmt mit wachsendem Abstand ab, weil sich das Licht auf eine immer größer werdende Fläche verteilt. Auch unsere Erfahrung mit Wärmestrahlung lehrt uns das. Das gleiche gilt für die konventionelle elektromagnetische Röntgenstrahlung. Die Dosis nimmt mit wachsender Eindringtiefe im Körper exponentiell ab.
Dass es aber eine Strahlungsform gibt, bei der die Strahlendosis erst am Ende des Strahlenweges - der Ort des Tumors - zur Hochform aufläuft, scheint eher absurd und verblüfft. Genau diesen Spuk vollführen Protonen. Der Grund dafür, warum sie erst spät ihre Energie abladen, liegt im Mechanismus der Energieabgabe. Bei diesen Teilchen entsteht die Energieabgabe durch Ionisation von Atomen im durchdrungenen Gewebe, also dem Herausschlagen von Elektronen.
Zu Beginn ihrer Wanderung durch das Körpergewebe deponieren Protonen äußerst wenig Dosis. Dann steigt die Energieabgabe sehr stark an, um im Folgenden wieder steil bis auf Null abzufallen. Der Höhepunkt der Energieabgabe, der sogenannte Bragg-Peak, lässt sich genau ermitteln. Wenn es also gelingt, dieses Maximum genau auf den Tumor zu fokussieren, wäre das optimal schädigend für den Bösewicht. Das zuvor durchdrungene gesunde Gewebe bliebe aber weitgehend verschont. Dieses Husarenstück gelingt in der Tat. Durch geeignete Wahl der Primärenergie kann das Maximum in verschiedene Gewebetiefen gelegt werden. Durch weitere elektronische Variation (Rasterscan-Verfahren) lässt sich der schmale Bragg-Peak so gestalten, dass während der Bestrahlung der Tumor in seiner gesamten Fülle dreidimensional präzise erfasst wird.
Weltweit existieren schon einige Protonen-Bestrahlungsanlagen, vor allem in Japan und den USA, aber auch in München. Hier befinden sich wahre Monstergeräte, nämlich die Ionenquelle, der Linearbeschleuniger, der die Ionen auf ein gutes Aufwärmtempo bringt. Danach geht’s ab in den Kreisverkehr des ringförmigen Teilchenbeschleunigers, das Synchroton. Während die Teilchen pro Sekunde Millionenmal in einem elektromagnetischen Feld in einer Kreisbahn sausen, beschleunigt sich ihre Geschwindigkeit auf Zweidrittel der Lichtgeschwindigkeit. Im eigentlichen Behandlungsraum sieht man von diesen tonnenschweren Kolossen nichts. Hier umkreist die Strahlenquelle den Krebskranken wie eine heilsame Sonne.
Die Crux der Röntgen-Bestrahlung
Die zerstörende Energiedosis kann bei der Protonenbestrahlung millimetergenau auf das Zielgebiet des Tumors gerichtet werden - eine wahre Punktlandung. Dagegen verpasst eine Röntgen-Bestrahlung dem Körper einen regelrechten Durchschuss. Zwar lassen sich Röntgenstrahlen gut bündeln, sie sind genau auf den Tumor zielbar, indes nicht in der Raumdimension. Der in den Körper eintretende Röntgenstrahl richtet den meisten Schaden unmittelbar unter der Haut an, seine Intensität klingt dann ab, bis der Strahl den Körper wieder verlässt: Rund 50% der Röntgenstrahlen treten an der Körpergegenseite wieder aus.
Auf die Position des Tumors in der Tiefe ist der Röntgenstrahl überhaupt nicht zielbar. Das führt dazu, dass unter Umständen Röntgen das gesunde Umgebungsgewebe mit der drei- bis fünffachen Strahlenmenge schädigt. Die verursachten Kollateralschäden in der Umgebung sind extrem vielfältig. Die Bestrahlung im gesunden Gewebe kann noch nach Jahren Sekundärtumore auslösen.
Abhängig von der Lage und Größe des Tumors, kommt man bei der Protonentherapie also mit einem Viertel der Schadensstrahlung aus und das selbst im Vergleich zu den modernsten konventionellen Röntgengeräten. Dem Patienten geht es besser, er leidet nicht an akuten und späteren Nebenwirkungen. In vielen Fällen lässt sich auch die Zahl der notwendigen Bestrahlungssitzungen herabsetzen, z.B. bei Prostata-Karzinomen.
Unser Streifzug hat gezeigt, dass der Mensch durchaus findig ist mit der Welt der Atomrümpfe (Protonen, Neutronen) umzugehen. Wir Erdlinge sind ja eher geborene Distributoren, wenn es darum geht, den gefährlichen selbst erzeugten Müll - Pestizide, Gifte, Kunststoffe, Unrat und Atomschrott - über den gesamten Globus zu verschmieren. Das einzige was wir horten ist Gold. Die extreme Langlebigkeit bestimmter Radionuklide überfordert allerdings unser Zeitgefühl. Ist doch die Menschheit bloß ein Zeit-Krümel, eine Art Zeit-Pixel im unendlichen kosmischen Geschehen.