Wie ein notorischer Lügner und Krimineller zum „Heiligen“ der Friedensbewegung wurde
Von Christian Hiß
Es war der 6. August 1945, ein fast wolkenloser Sonnentag, die Bevölkerung Hiroshimas – zu diesem Zeitpunkt und trotz des Krieges fast nur Zivilisten und verschleppte chinesische und koreanische Zwangsarbeiter – war bereits bei der Arbeit, in der Schule oder auf dem Weg dorthin, als die Besatzung der „Enola Gay“, eines auch „Superfortress“ genannten B-29-Bombers der US Air Force um 8:15 Uhr und 17 Sekunden Ortszeit die „Little Boy“ genannte Uran-Bombe (mit einer Sprengkraft von 12.500 Tonnen TNT) in 10 Kilometern Höhe ausklingte.
Nur wenige Sekunden später, um 8:16 Uhr und 2 Sekunden explodierte „Little Boy“ in 600 Metern Höhe und löschte auf einen Schlag 80.000 Menschenleben aus. Von den armen Gestalten, die im Epizentrum weilten, blieben oft nur Schattenrisse auf den stehengebliebenen Gebäudewänden hinter ihnen, wer nicht komplett verdampfte, dessen Überreste wurden von der gewaltigen Druckwelle hinfort gerissen.
Noch in 10 Kilometern Entfernung entfachte die Hitzewelle Feuer. Es war die Hölle auf Erden. Die direkten und indirekten Explosionswirkungen sollen nach heutiger Auffassung um die 250.000 Menschenleben gekostet haben – militärisch völlig sinnlos.
Vom gefeierten Kriegshelden zum Posträuber, zu einem Millionenpublikum und bis nach Hollywood(?)
Zurück in den USA. Es ist mittlerweile 1957. Der US-Hilfssheriff Robert C. Smith aus San Antiono, Texas, begleitet einen Gefangenentransport auf dem Weg in die Stadt Fort Worth, wo sich das Bezirksgefängnis befindet. Mit im Fond des Wagens sitz ein eher unauffälliger Gefangener, der kurz nach der Entlassung aus einer Heilanstalt für Kriegsveteranen zusammen mit einem Bekannten aus dieser Anstalt zwei Postämter überfallen hat.
Bei den Überfällen soll niemand zu Schaden gekommen sein, gleichwohl ist Postraub in den USA eine ernste Straftat – ein Bundesverbrechen. Zwischen dem unauffälligen Gefangenen und dem Hilfssheriff entwickelt sich ein Gespräch, im Laufe dessen sich herausstellt, dass beide in der 509. Verbundgruppe der US-Luftwaffe („509. Composite Group“) gedient haben – jener berühmt-berüchtigten Einheit, die nur für einen Zweck aufgestellt wurde: den Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.
Der Hilfssheriff kann sich jedoch nicht erinnern während seiner Dienstzeit je von einem Kameraden namens Claude Eatherly – so heißt der unauffällige Gefangene – gehört zu haben. Eatherly jedoch verfügt über derart viel Detailwissen, dass die Zweifel des Hilfssheriffs verschwinden. Im Gefängnis angekommen, schnappt selben abends ein Reporter des „Fort Worth Star-Telegram“ die Gerüchte über den Neuzugang auf.
Er beschließt, Eatherly in seiner Zelle zu besuchen und bereits zwei Tage später erscheint im „Fort Worth Star-Telegram“ der erste Bericht über Claude Eatherly – den Mann, der Hiroshima bombardierte und dessen Schuldgefühle ihn in die Kriminalität trieben. Der Fernsehsender „NBC“ macht die Geschichte kurz darauf einem Millionenpublikum bekannt.
Diese Geschichte von einem Mann, Claude Eatherly, der das Kommando zum Ausklingen „der Bombe“ gab, der als Held gefeiert wurde, die höchste Auszeichnung der US-Luftwaffe erhielt, doch schon bald von Albträumen und Schuldgefühlen heimgesucht wird. Die Geschichte eines Mannes, der seine Invalidenrente als „Blutgeld“ ablehnt, der Einbrüche und Überfälle begeht, einfach um „bestraft“ zu werden, bestraft für seine Mitschuld an Hiroshima und Nagasaki.
Anders und Eatherly: eine Brieffreundschaft wird Buch, das Buch wird „Bibel“ der Anti-Atomwaffen-Bewegung
Eatherly wird währenddessen für unzurechnungs- bzw. nicht schuldfähig erklärt, aus dem Gefängnis entlassen und geht auf eigenen Wunsch zurück in die psychiatrische Abteilung der Kriegsveteranen-Heilanstalt. Doch er ist kein gewöhnlicher Patient mehr; er erhält Briefe aus aller Welt, selbst Hollywood meldet sich, seine Geschichte soll verfilmt werden.
Doch Eatherly begeht während eines Urlaubes von der psychiatrischen Abteilung erneut einen Überfall, er verlangt mit einer Spielzeugpistole bewaffnet Geld auf einem Postamt, das Geld nimmt er jedoch nicht mit, sondern geht zurück in die psychiatrische Abteilung – dort steht er von nun an und Daueraufsicht.
1959 erreicht Eatherly ein Brief des österreichischen Philosophen Günther Anders – dieser sieht in Eatherly die Verkörperung des „Menschen des Atomzeitalters, der schuldlos schuldig wurde“. Anders geht soweit, dass er den reuigen Eatherly sogar Adolf Eichmann gegenüberstellt: Eatherlys Reue sei das Gegenstück zu Eichmanns „Pflichtgefühl“, sodass doch noch Hoffnung für die Menschheit besteht.
Zwischen den beiden entwickelt sich eine lange Korrespondenz, Anders liefert die Stichwörter, Eatherly gibt diese dann als seine eigene Meinung, die Meinung des reuigen Bomberpiloten wieder. 1962 wird die Korrespondenz als Buch veröffentlicht, das Buch, in viele Sprachen übersetzt, wird ein Standardwerk, ja fast könnte man sagen, „die Bibel“ der Anti-Atomwaffen-Bewegung.
Doch viele Amerikaner fühlen sich durch das „Schuldbekenntnis“ des Claude Eatherly auch provoziert, unter ihnen der amerikanische Kriegsberichterstatter und Schriftsteller William Bradford Huie und Huie arbeitet so gründlich wie ein Erstsemester im Journalistik-Studium, voller Enthusiasmus und noch nicht kommerzialisiert. Huie recherchiert, er stellt Fragen, spricht mit Eatherlys behandelnden Ärzten, dessen Brüdern, seiner Ex-Frau. 1964 erscheint das Ergebnis Huies akribischer, fast detektivischer Recherchen als Buch. Er entlarvt Eatherly als Kleinkriminellen, als notorischen Lügner.
Der Lügner wird entlarvt: vom enttäuschten „Wetterfrosch“ zum Söldner, zum Geschichtenerzähler und Pazifisten
Huie präsentiert die harten Fakten, Eatherlys Geschichte ist zu großen Teilen falsch, frei erfunden. Als „Little Boy“ über Hiroshima ausgeklinkt wird, als es zur Explosion kommt, ist Eatherly längst auf dem Rückweg. Er ist zu weit enfernt, als dass er die Auswirkungen der Explosion in der von ihm später geschilderten Dramatik überhaupt hätte wahrnehmen können. Denn Claude Eatherly flog lediglich die Vorhut, das Wetterflugzeug! Um 7:09 Uhr überflog Eatherly Hiroshima und übermittelte per Funk seinen tödlichen Wetterbericht: „Wolkendecke weniger als 3/10 in jeder Höhe. Rate an, Primärziel zu bombardieren.“
Eatherly war „Wetterfrosch“, kein gefeierter Kriegsheld, kein Orden – sein Wetterbericht hat das Höllenfeuer von Hiroshima zwar mit entfacht, aber den Zeugen, die Huie zu Wort kommen lässt, war der reuige Eatherly sogar enttäuscht, dass er nicht die Abwurfmission geflogen ist. Er wollte „Little Boy“ abwerfen. Er fühlte sich – so Huie – um Anerkennung und Ruhm betrogen.
Nach dem Kriegsende aus der Luftwaffe als Major entlassen, scheitert Eatherly im Zivilleben. Er trinkt, er spielt, er macht Schulden. Im Januar 1947 lernt Eatherly William Marsalis kennen. Marsalis bietet Eatherly 100.000 US-Dollar für einen ganz besonderen Auftrag; Eatherly soll als erfahrener Bomberpilot Havana bombardieren und so die Landung von Marsalis und seiner Mitverschwörer Privatarmee ermöglichen.
Marsalis und seine Unterstützer planen die eigenmächtige Eroberung Kubas, um es als (dann) 49. Bundesstaat in die USA zu bringen. Der Plan fliegt jedoch auf, als die Bundespolizei das Waffenlager der Verschwörer entdeckt. Eatherly entgeht nur knapp dem Gefängnis. Das Bild des Havanna zu bombardierenden willigen Söldners Eatherly passt jedoch überhaupt nicht zum Bild des reumütigen Eatherly, des laut Anders „schuldlos schuldig gewordenen Menschen des Atomzeitalters“.
Der Lügner und der wahre Bomberpilot: Beide bereuen nichts!
Das Leben des Claude Eatherly ist voller Widersprüche, viele Menschen glauben bis heute die Legende vom reumütigen Bomberpiloten. Menschen brauchen Legenden. Eatherly, konfrontiert mit Huies Recherchen, soll gesagt haben: „Es gibt nur drei Tatsachen an mir, die wichtig sind. Ich war in Hiroshima. Ich bereute. Ich bin jetzt Pazifist, und die guten Menschen in der ganzen Welt interessieren sich für mich.
Das sind die einzigen Tatsachen, die von Bedeutung sind. All das andere, was Sie ausgegraben haben, wird daran nichts ändern.“ Ob Eatherly tatsächlich Reue empfand oder die Aufmerksamkeit nur nutze, um Geld mit seiner (Lügen-)Geschichte zu verdienen, wird sich wohl nicht mehr abschließend aufklären lassen. Claude Eatherly starb 1978 an Krebs.
Der Kommandant der „Enola Gay“, Paul Tibbets, der viel mehr Verantwortung trägt als Claude Eatherly behauptete, selbst zu tragen, wurde 1981 in einem Interview gefragt, ob er ein schlechtes Gewissen habe: „Nein, damit halte ich mich nicht auf. Es gibt zu viele neue und interessante Dinge in meinem Leben. Jeden Tag muss ich eher darüber nachdenken als über so etwas wie Hiroshima. Ich lebe nicht in der Vergangenheit.“
Nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima, haben amerikanische Soldanten die Folgen dokumentiert. Dieser Film der US Air Force zeigt die enormen Zerstörungen (2:57 Minuten):