Pharmaindustrie schlägt Alarm: Ein Gas-Stopp kann Produktion lebenswichtiger Medikamente gefährden. Auch für Corona-Impfstoff-Hersteller könnte ein Gas-Engpass erhebliche Probleme mit sich bringen.
Ein schnelles Gasembargo gegen Russland könnte die Pharmaindustrie in Deutschland in erhebliche Schwierigkeiten bringen und die Produktion lebenswichtiger Medikamente gefährden. Das ist das Ergebnis einer Umfrage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter wichtigen Industrievertretern. Sowohl Dax-Unternehmen wie auch kleinere Unternehmen aus der Branche sind zum Teil in erheblichem Umfang auf den Energieträger angewiesen. Sie sorgen sich wegen eines Engpasses, bereiten sich aber teilweise auch schon auf die entsprechende Möglichkeit vor.
Die Vorsitzende der Geschäftsleitung von Merck in Darmstadt, Belén Garijo, sagte, man benötige eine erhebliche Menge an Erdgas, vor allem zur Erzeugung von Strom und Prozessdampf. „Im Falle einer kurzfristigen Energie- und/oder Gasknappheit riskieren wir daher die Produktion und Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten und kritischen Produkten für die Entwicklung und Herstellung von Biologika und Covid-Impfstoffen.“
Der Bad Homburger Gesundheitskonzern Fresenius bereitet sich auf das Schlimmste vor. „Gleich welche Seite beschließen sollte, den Gashahn zuzudrehen: Wir tun gut daran, uns zügig auf mögliche Engpässe vorzubereiten“, sagte der Vorstandsvorsitzende Stephan Sturm. Er riet, in der Energiefrage eine kühlen Kopf zu behalten und sehr sorgfältig abzuwägen: „Das Thema ist vielschichtig und von großer Tragweite. Deshalb sollten Entscheidungen, trotz der schrecklichen Bilder aus der Ukraine, nicht aus einem emotionalen Impuls heraus getroffen werden.“ Maßstab müsse sein, dass jegliche Sanktionen „dem russischen Regime größeren Schaden zufügen als uns“.
Auch für Corona-Impfstoff-Hersteller könnte ein Gas-Engpass erhebliche Probleme mit sich bringen. „Im Rahmen unserer Business-Continuity-Strategie haben wir umfangreiche Maßnahmen ergriffen, um unsere Produktion gegen das Risiko einer Energieunterversorgung abzusichern“, hieß es von Seiten Biontechs. Die Covid-19-Impfstoffproduktion könne man bei einem Ausfall von Erdgas kurzfristig durch andere Energiequellen sicherstellen. Dafür seien in den vergangenen Tagen und Wochen zusätzliche Maßnahmen ergriffen worden. Allerdings ist Biontech nach eigenem Bekunden auf Rohstoffe oder Vorprodukte von Zulieferern angewiesen.
Der Pharmahersteller Boehringer Ingelheim unterstützt nach eigenem Bekunden Initiativen, um die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas so weitgehend und so schnell wie möglich zu verringern. „Wir wissen aber auch, dass eine solche Transformation nicht über Nacht erreicht werden kann“, hieß es einschränkend. Wie Boehringer ist auch der seit Herbst im Dax börsennotierte Pharmazulieferer Sartorius aus Göttingen auf Gas „in relevantem Umfang“ angewiesen. Ein „relativ kurzfristiger Lieferstopp“ könnte zu Einschränkungen in der Produktion führen, befürchtete Vorstandschef Joachim Kreuzburg.
Der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI), Hans-Georg Feldmeier, sagte: „Unsere Mitgliedsunternehmen befürchten auf Grund der Energieabhängigkeit von Russland verbunden mit Auswirkungen der Covid-19-Pandemie Versorgungsprobleme und massive Kostensteigerungen bei allen Ausgangsmaterialien und vor allem auch bei den Energiekosten.“ Generell gehe man davon aus, dass Pharma als kritische Infrastruktur gesehen werde. „Wir erwarten, dass mögliche Restriktionen in unserer Branche zuletzt oder gar nicht kommen“, forderte Feldmeier.
Wie solche Restriktionen oder Priorisierungen ausfallen, ist freilich derzeit noch völlig unklar. Die Bundesnetzagentur, die im Fall einer „Gasmangellage“ zum sogenannten Bundeslastverteiler wird und in einer Krise hoheitlich die Verteilung und Zuteilung knapper Gasmengen verantwortet, wies darauf hin, dass es sich grundsätzlich um Einzelfallentscheidungen handele. „Daher bereitet die Bundesnetzagentur keine abstrakten Abschalte-Reihenfolgen vor.“ Das heißt auf der anderen Seite: Eine generelle Bevorzugung der Pharmabranche ist nicht vorgesehen.