Weil Gas knapp wird und die verbleibenden AKWs immer noch abgeschaltet werden sollen, plant die Regierung Kohlekraftwerke zu reaktivieren. Ob dieser Verzweiflungsschritt erfolgreich sein wird, ist zweifelhaft. Fragen: Wo soll die Kohle herkommen? Kann man stillgelegte Kraftwerke wieder hochfahren? Gibt es hierfür genügend Fachkräfte?
Börsen-Zeitung: "Bitter nötig", Kommentar zur Kohleverstromung von Stefan Paravicini
"Das ist bitter, in dieser Lage aber schier notwendig", sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck über seine Pläne, in den nächsten Monaten verstärkt auf den Einsatz von Kohlekraftwerken für die Stromversorgung zu setzen. Der grüne Vizekanzler, der sich als Klimaschutzminister der Ampel-Koalition eigentlich aufmachen wollte, den Umbau der Industrienation Deutschland Richtung Klimaneutralität voranzubringen, muss schon zum wiederholten Mal in die entgegengesetzte Richtung vorangehen. Die seit der russischen Invasion in die Ukraine veränderte sicherheits- und energiepolitische Lage zwingen ihn dazu.
Mehr Kohleverstromung statt des Einsatzes von vergleichsweise klimafreundlicherem Gas für die Stromerzeugung in Deutschland soll trotz der zuletzt gedrosselten Gaslieferungen aus Russland sicherstellen, dass die Gasspeicher über den Sommer aufgefüllt werden. Das hat für Habeck oberste Priorität, der in den vergangenen Wochen bereits mehrfach bewiesen hat, dass er kühlen Pragmatismus kann. Bis Anfang November soll der Füllstand der Gasspeicher von derzeit rund 58 Prozent auf 90 Prozent steigen. Andernfalls droht Deutschland spätestens zum Winteranfang leichtes Ziel für Erpressungsversuche aus Moskau zu werden.
Um das zu verhindern, soll nicht nur die Kohlekraftreserve vergrößert und kurzfristig aktiviert werden. Die Bundesregierung stellt über die KfW auch Kredite über 15 Mrd. Euro zur Verfügung, damit die Ferngasnetzbetreiber trotz der gestiegenen Preise die nötigen Mengen zur Befüllung der Gasspeicher einkaufen können. Über ein Auktionsmodell sollen außerdem Anreize für die Industrie geschaffen werden, Gas einzusparen. Ein marktwirtschaftliches Instrument, das prompt auf positives Echo stieß.
Die Einsparpotenziale, gerade in energieintensiven Branchen, die ihre Prozesse auf Gas als emissionsarme Brücke in ein postfossiles Zeitalter ausgerichtet haben, dürften überschaubar bleiben - zumindest solange die Produktion nicht gedrosselt wird. Ein Szenario, das für den Fall einer Versorgungsnotlage bei Gas im Winter trotz der Pläne des Bundeswirtschaftsministeriums einzelnen Unternehmen drohen könnte. Einsparungen im Privaten, wie sie etwa Bundesnetzagentur-Präsident Klaus Müller mit der möglichen Absenkung der Mindesttemperatur in Mietwohnungen ins Spiel gebracht hat, bleiben im Maßnahmenpaket des Bundeswirtschaftsministeriums außen vor. Sie könnten bald ebenfalls bitter nötig werden.