Unabhängig davon, wie man seine Verfehlungen einschätzt, sollte sich der kritische Beobachter fragen: Cui bono? Wer profitiert eigentlich von diesen Ereignissen, die nun ach so urplötzlich "aufgedeckt" werden? Wollte der Bundespräsident die ESM-Gesetze stoppen?
von Roland Klaus
Die mediale Jagd auf unseren Bundespräsidenten erreicht in diesen Tagen einen Höhepunkt. Nun beteiligen sich auch Medien daran, die sich bisher eher zurückhaltend und abwägend geäußert haben. Die veröffentlichte Meinung signalisiert eindeutig: Es gibt keine Alternative mehr zu einem Rücktritt. Keine Frage, Christian Wulff ist bisher alles andere als ein starker Präsident. Aber unabhängig davon, wie man seine Verfehlungen einschätzt, sollte sich der kritische Beobachter an dieser Stelle fragen: Cui bono? Wer profitiert eigentlich von diesen Ereignissen, die nun ach so urplötzlich "aufgedeckt" werden? Wer könnte ein Interesse daran haben, Wulff abzusägen oder zumindest massiv in die Defensive zu drängen?
Drehen wir die Zeit gut vier Monate zurück: Am 24. August 2011 hält Christian Wulff in Lindau auf einem Treffen von Nobelpreisträgern seine vielleicht bemerkenswerteste Rede als Bundespräsident. Für die meisten völlig überraschend kritisiert er den Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB und die Rettungsaktionen der europäischen Politiker: "Wer heute die Folgen geplatzter Spekulationsblasen allein mit Geld und Garantien zu mildern versucht, verschiebt die Lasten zur jungen Generation und erschwert ihr die Zukunft. All diejenigen, die das propagieren, handeln nach dem Motto: Nach mir die Sintflut." Eine schallende Ohrfeige für Angela Merkel und die Riege der Befürworter von Rettungsschirmen und Transferunion. Mit schönem Gruß aus Schloss Bellevue.
Möglicherweise war das der Zeitpunkt, zu dem in einigen politischen Zirkeln entschieden wurde, dass es notwendig sei, die Urlaubsreisen und Kreditverträge des Bundespräsidenten etwas genauer zu untersuchen und ans Licht der Öffentlichkeit zu ziehen. Denn Wulff ist eben nicht ein einfacher Bundestagsabgeordneter, der mit seinen kritischen Bemerkungen zwar Öffentlichkeitswirkung erzielt, aber letztlich an der politischen Phalanx der Rettungsschirm-Befürworter scheitert. Wulff ist das Oberhaupt eines Staates, dessen Regierung sich zum Vorkämpfer von Eurorettung und Schuldenunion gemacht hat und damit genau das tut, was Wulff in Lindau kritisiert hat: das Problem in die Zukunft zu verschieben. Und er ist vor allem derjenige, der die Ratifizierungsgesetze zum ESM unterschreiben muss, damit sie wirksam werden. Eine Aufgabe, die sich nur äußerst schwer mit seinen Äußerungen aus dem August vereinbaren lässt.
Drohte Wulff also möglicherweise, die ESM-Gesetze durchfallen zu lassen? War das der Grund, ihn soweit unter Druck zu setzen, dass ihm nur noch der Rücktritt bleibt oder er zumindest so geschwächt zurückbleibt, dass ihm die Kraft für eine ernsthafte Opposition zum Rettungsschirm fehlt? Gut drei Monate von Ende August bis Anfang Dezember: Das ist in etwa die Zeit, die man benötigt, um die Fakten für eine mediale Kampagne zu recherchieren und gemeinsam mit ausgewählten Medien vorzubereiten. Es gibt keinen Grund, Wulffs durchaus grenzwertiges Verhalten gutzuheißen. Aber es gibt einige gute Gründe dafür, zu hinterfragen, wer hinter der medialen Hetzjagd steckt und welche Interessen damit wirklich verfolgt werden.
Roland Klaus arbeitet als freier Journalist und Analyst in Frankfurt am Main. Für den amerikanischen Finanzsender CNBC und den deutschen Nachrichtenkanal N24 berichtete er von der Frankfurter Börse. In seinem Buch „Wirtschaftliche Selbstverteidigung“ entwirft er eine Analyse der Schuldenkrise und liefert Ratschläge, wie man sich auf die entstehenden Risiken einstellen kann. Sie erreichen Ihn unter