Der Politikwissenschaftler und Afghanistan-Experte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hat davor gewarnt, sich bei Verhandlungen mit den Taliban auf Zusicherungen zu verlassen. "Man muss zur Kenntnis nehmen, dass Afghanistan für den Westen erst einmal verloren ist", sagte er dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland" (Freitagausgaben). "Vor zwei Wochen waren wir noch Gestalter und Beeinflusser, jetzt sind wir Bittsteller."
Die Taliban seien die neue Regierung, auch wenn man sie diplomatisch nicht anerkenne, sagte Kaim. Das sei die neue Realität, mit der man aus pragmatischen Erwägungen heraus leben müsse. Angela Merkel (CDU) habe deutlich gemacht, dass auch Deutschland mit den Taliban verhandle. "Vor drei Wochen hätte man dafür Peitschenschläge bekommen, jetzt ist das der neue Standard der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik."
Angesichts von Zusagen der Taliban, auch nach dem 31. August Afghanen mit "legalen Dokumenten" aus dem Land ausreisen zu lassen, mahnte der Politologe zu Skepsis: "Viele Zusicherungen, die die Taliban bei den Verhandlungen in Doha gegeben haben, wurden nicht umgesetzt", sagte er. Die Taliban hätten sich nicht als seriöser Verhandlungspartner erwiesen. Dass der Westen noch in der Lage ist, einen mäßigenden Einfluss auf die Taliban auszuüben, bezweifelt Markus Kaim.
"Vor allem weil es aus Sicht der Taliban eine Alternative gibt, an die man sich wenden kann, nämlich China und Russland." Beide Staaten agierten derzeit mit einer Mischung aus Vorsicht und geopolitischen Ambitionen. "Sie lassen keinen Zweifel daran, wer die neuen regionalen Herrscher sind, an die die Taliban sich zu wenden haben. Und sie signalisieren gleichzeitig, dass sie keine Einwände gegen die Taliban-Herrschaft haben, solange ihre eigenen Interessen gewahrt bleiben."
Es gebe jedoch ein überschneidendes Interesse Chinas und Russlands mit dem Westen an der Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus. "Wenn es einen seriösen Versuch im Sicherheitsrat der Vereinten Nation gäbe, falls nötig gegen Terroristen in der Region vorzugehen, wären China und Russland dafür offen", so der Politikwissenschaftler. Die westlichen Staaten müssten China und Russland deshalb in ihre Überlegungen einbeziehen.
Foto: Bundeswehr-Soldat, über dts Nachrichtenagentur