Der Nahostexperte Michael Lüders fordert die Bundesregierung angesichts der Eskalation im Nahen Osten auf, sich nicht länger hinter dem Begriff der Staatsräson zu verstecken. "Deutschland tut sich schwer damit, die Staatsräson in Einklang zu bringen mit dem Völkerrecht", sagte Lüders der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (NOZ). So seien die "Entscheider in Deutschland der Meinung, die richtigen Lektionen aus der jüngeren deutschen Geschichte gezogen zu haben, soll heißen, sich ohne Wenn und Aber hinter Israel zu stellen". Damit aber mache sich Deutschland, "indirekt zum Komplizen mit dem, was zunehmend mehr Staaten dieser Welt als Genozid bezeichnen", sagte Lüders. Lüders, der bei der Europawahl im Sommer für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) kandidiert hat, bekräftigte in der NOZ: "Es wäre doch die Frage, ob die richtige Lektion aus der jüngeren deutschen Geschichte nicht wäre, zu sagen, wir wissen, was Massenmord, was Genozid bedeutet und gerade deswegen werden wir unsere Stimme immer dann erheben, wenn irgendwo auf der Welt Unrecht epochalen Ausmaßes geschieht, ganz gleich, von wem es ausgeht".
Diese Überlegung aber spiele im Kontext Berliner Politik in diesen Tagen keine Rolle.
Dass es Israel ausschließlich um Selbstverteidigung gehe, sei eine "irrige Annahme", sagte der Nahostexperte. "Welches Israel ist denn gemeint, das es zu verteidigen gilt? Das Israel in den Grenzen des 4. Juni 1967 vor dem Sechs-Tage-Krieg oder dasjenige danach, also ein Groß-Israel, das darauf abzielt, sich das gesamte vermeintlich biblisch verheißene Land untertan zu machen? Das Parteiprogramm der regierenden Likud-Partei von Benjamin Netanjahu hält unmissverständlich fest, dass es einen palästinensischen Staat westlich des Jordanflusses nicht geben kann", sagte Lüders.
Nach Ansicht des ehemaligen Präsidenten der Deutsch-Arabischen Gesellschaft findet im Schatten der Militärschläge gegen die Hisbollah im Libanon eine Vertreibung der Menschen in Gaza statt. "Anhaltende Militäroperationen im Norden des Gazastreifens deuten darauf hin, dass die Israelis dabei sind, das Gebiet ethnisch zu säubern", sagte Lüders und fügte hinzu: "Gleichzeitig verhandelt die israelische Politik weltweit mit Gesprächspartnern, zum Beispiel der EU und auch afrikanischen Ländern, intensiv über die Aufnahme von Palästinensern. Der Krieg im Libanon ist auch eine Ablenkung von dem, was im Gazastreifen passiert."
Die EU und Deutschland forderte Lüders auf, mehr Druck auf Israel auszuüben. Er sagte der NOZ: "Man hätte durchaus einige Maßnahmen in petto, die man anwenden könnte, um Israel zur Mäßigung zu zwingen. Das kann zum Beispiel konkret bedeuten, dass Deutschland genau das tut, was andere europäische Länder bereits getan haben, nämlich den Staat Palästina anzuerkennen. Darüber hinaus könnte es bedeuten, dass große Investmentfirmen, wie es bereits in Norwegen, Irland und anderen europäischen Ländern zu beobachten ist, keine Investitionen mehr in Israel tätigen". Zudem könne man "die bevorzugte Behandlung Israels im Rahmen der Europäischen Union - israelische Produkte unterliegen ja den gleichen Handelsbedingungen wie die der EU-Partner - zurückfahren", zumindest so lange, wie es "keinen Fahrplan für die Gründung eines palästinensischen Staates" gebe.
Foto: Michael Lüders (Archiv), über dts Nachrichtenagentur