Politiker in Brüssel bestimmen einen neuen Führer. Was da intern abläuft, ist völlig dubios. Nur eines ist sicher: Mit Demokratie hat es nichts zu tun. Es erinnert eher an die Papst-Findung der katholischen Kirche im Vatikan oder an die UdSSR.
Börsen-Zeitung: "Weiße Fahne in Straßburg" Kommentar zur erneuten Verschiebung der EU-Personalentscheidungen von Andreas Heitker
Nach zwei Sondergipfeln, einem normalen Gipfel, tagelangen Sondierungen in kleiner und großer Runde haben es die europäischen Staats- und Regierungschefs noch immer nicht geschafft, sich auf das Führungspersonal der wichtigsten EU-Institutionen zu einigen - allen voran auf die Nachfolge von Jean-Claude Juncker an der Spitze der Europäischen Kommission.
Immer wieder verhindern persönliche Eitelkeiten, parteipolitische Machtansprüche oder nationale Taktierereien eine Verständigung - obwohl das strategisch so wichtige Präsidentenamt in der Europäischen Zentralbank aus dem Personaltableau schon ausgeklammert wurde. Auf den ersten Blick vermittelt der Rat ein äußerst trauriges Bild nach außen.
Auf der anderen Seite sollte aber auch einmal die Komplexität und Bedeutung dieser Personalentscheidungen anerkannt werden. In Berlin weiß man mittlerweile, wie lange Koalitionsverhandlungen dauern können - und dort gilt es weit weniger Interessen unter einen Hut zu bringen.
Auf EU-Ebene ist bei der Mehrheit der Regierungschefs zurzeit der Wille zu spüren, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, das Ergebnis der Europawahl zu respektieren, einen möglichst breiten Konsens zu finden und, falls nötig, auch einmal Kompromisse zu machen. Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel bereit war, auch einen Sozialdemokraten als Kommissionschef zu akzeptieren, ist ja auch nicht selbstverständlich.
Und je länger der Europäische Rat jetzt um eine Lösung ringt - heute Vormittag soll es einen neuen Anlauf geben -, umso drängender wird die Frage: Was macht eigentlich das Europäische Parlament?
Was ist eigentlich aus dem vor der Europawahl und auch noch kurz danach selbstbewusst geäußerten Anspruch geworden, die Suche nach dem EU-Führungspersonal nicht mehr nur dem Rat zu überlassen, sondern das Parlament ins Zentrum der Entscheidungen zu rücken?
Die Fraktionschefs des EU-Parlaments hatten nach der Europawahl versucht, eigene Mehrheiten im Personalpoker zu organisieren. Dabei sind sie kläglich gescheitert. Und niemand versucht mittlerweile mehr, die Blockaden im Abgeordnetenhaus zu lösen.
Anstatt den eigenen Gestaltungsanspruch zu untermauern, hat sich das neue EU-Parlament schon vor seiner heutigen konstituierenden Sitzung in Straßburg selbst entmachtet. Einen konstruktiven Beitrag zu den komplexen Personalentscheidungen sucht man vergebens. Auch deshalb ist das Ringen um eine Konsenslösung im Europäischen Rat nicht so schlecht, wie es scheint.