Die Schildbürger, über die einst die ganze Welt lachte, hatten aus der Vergangenheit gelernt und waren nach eigener Einschätzung oberschlau geworden.
von Dr. R. Bachofer
Soziale Probleme gab es in Schilda nicht, weil man die Grundrente für alle ab der Geburt eingeführt hatte. Finanzierungslücken gehören der Vergangenheit an, seitdem die Stadtverwaltung eine Herde von Goldeseln hielt.
Dem demografischen Wandel war man in genialer Weise begegnet, indem junge Männer aus aller Welt eingeladen wurden, als Geflüchtete nach Schilda zu kommen – man würde mit ihnen Haus und Hof inklusive Tischlein-deck-dich und Jungfrauen teilen. Die Resonanz war groß gewesen: Eine wahre Völkerwanderung hatte eingesetzt und dauerte immer noch an.
Um den Zustrom zu erleichtern, hielt man die Tore Tag und Nacht geöffnet und auch ein Teil der Stadtmauer wurde eingerissen. Routinemäßige Kontrollen der Flüchtlinge gab es nicht und wenn versehentlich doch mal eine stattfand, genügte ein Handy als Eintrittskarte.
Das Miteinander von schon länger in der Stadt Lebenden und den neu Hinzugekommenen funktionierte ohne Probleme. Es herrschte Friede, Freude, Eierkuchen, ethnische und ethische Schranken gab es nicht mehr, und selbst die grauen Haare der ewig Gestrigen waren der Buntheit gewichen. Sogar religiöse Differenzen waren ausgeräumt worden: Man hatte sich im Volksentscheid für den Glauben entschieden, der einerseits keine illusorischen Anforderungen wie Feindesliebe an die Lebenden stellte und der andererseits das schönste aller Paradiese für die Toten versprach.
Seit Langem war Schilda genderneutral und auch da stand die Stadt für ein geniales Modell: Geschlechter gab es zugunsten der Diversität nicht mehr, was sich auch in der Sprache niedergeschlagen hatte. Das Neutrum hatte das Femininum und das Maskulinum ersetzt, sodass beispielsweise die korrekte Einordnung des Begriffes Mensch als „das Mensch“ gelungen war.
Entsprechend war auch die Kleidung in Form eines Überziehsackes vereinheitlicht worden. Taschen waren untersagt, sodass Messer und andere Gebrauchsgegenstände offen getragen werden mussten, was zu einem Rückgang der ohnehin nicht vorhandenen Kriminalität geführt hatte. Deshalb gab es auch kaum Polizei in der Stadt. Lediglich die Laufrichtung in den Straßen, die allesamt kreisförmige Einbahnstraßen gegen den Uhrzeigersinn waren, wurde streng überwacht.
Menschen, die sich quer stellten oder sich gar rückwärtsgewandt verhielten, wurden einer Umerziehung unterzogen. Streitereien auf medialer und politischer Ebene gab es in Schilda nicht mehr, seit sich die Verantwortlichen für ein friedliches Miteinander auf ewig entschieden hatten. Es gab noch ein Stadtparlament, das aber mit der Stadtratsvorsitzenden in großer Harmonie zusammenarbeitete.
Bei Abstimmungen wurden so stets über 100% Zustimmung erreicht. Zeitungen, Hörfunk- und Fernsehprogramme gab es mehrere, die in ihrer Wahrheitsfindung punktgenaue Übereinstimmung aufwiesen.
Das Schulsystem in Schilda wurde an die Erkenntnisse der Zeit angepasst. Es gab nur noch Gymnasien, und zwar mit vollständiger Inklusion wie z. B. von Klugscheißern, Ignoranten und Hirnamputierten.
Das Fach Deutsch wurde einschließlich der deutschen Dichter und Denker abgeschafft, dafür wurden zwei neue Fächer eingeführt: „Genderismus“ und „Verantwortung“ (für alles Böse in der Welt). Prüfungen gab es nur in den beiden letzteren Fächern und nur für den indigenen Bevölkerungsanteil, alle anderen erwarben die allgemeine Hochschulreife automatisch.
Über Nacht wurde ein Maßnahmenpaket zur CO2-Vermeidung geschnürt. In der ersten Stufe wurde eine Atemsteuer eingeführt und die Zeugung von Kindern unter Strafe gestellt, weil speziell bei Säuglingen aufgrund von Windelanalysen eine extreme Klimaschädlichkeit aufgefallen war. Es zeigte sich allerdings, dass trotzdem geatmet wurde.
Auch musste konstatiert werden, dass es reichlich Schwangere gab, was nach ersten Erkenntnissen der Wissenschaft in irgend einem Zusammenhang mit der Stromabschaltung und der entsprechenden Dunkelheit, Kälte und Langeweile stehen musste.
Heizungen durften übrigens auch nicht mehr mehr betrieben werden, sodass zum einsetzenden Winter das Zähneklappern der Bevölkerung über die Stadtgrenzen hinaus zu hören war.
Weil das Ziel, die Welt von CO2 zu befreien, damit immer noch nicht erreicht wurde, schlachtete man nach und nach alle Tiere in der Stadt. Eine Hungersnot bahnte sich an und weil man auch die Goldesel geschlachtet hatte, konnten nicht einmal Nahrungsmittel von außerhalb zugekauft werden.
Die einstigen Flüchtlinge hatten die Stadt längst wieder fluchtartig verlassen. Für den Rest der Bevölkerung wurde aber die Devise ausgegeben, auszuharren und für die Rettung der Welt notfalls zu sterben. Als ultimative Maßnahme wurde ein Atemverbot erlassen und als dieses nicht griff, ließ man sich voller Opferbereitschaft und Sendungsbewusstsein in den alten Bunker unter der Stadt einschließen.
Das Ergebnis war eindeutig und die Gefährlichkeit von CO2 nun auch experimentell nachgewiesen. Die Wissenschaftler landauf landab triumphierten: quod erat demonstrandum!
Der letzte Schildbürger aber, der durch Los ermittelt worden war, um den Bunker von außen abzuschließen und den Schlüssel zu entsorgen, ging in die Welt hinaus und verbreitet seitdem seine Klugheit unter den Völkern.