Vor der Schaltkonferenz der Ministerpräsidenten mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach gegen eine Lockerung der für November verhängten Corona-Auflagen ausgesprochen.
"Ich gehe davon aus, dass wir den Wellenbrecher-Shutdown verlängern müssen, weil die Wirkung schwächer ausfällt als berechnet", sagte der Mediziner den Zeitungen der Funke-Mediengruppe . "Neben den Schulen ist eine zu geringe Beschränkung privater Kontakte wahrscheinliche Ursache."
Die Neuinfektionen seien viel zu hoch, sagte Lauterbach. "Für Lockerungen gibt es keinen Anlass." Neue Studien - etwa der Stanford-Universität - bestätigten die enorme Bedeutung von Restaurants, Cafés, Bars, Hotels und Fitnessräumen für die Ausbreitung des Coronavirus. "Genau dort entstehen Superspreader-Ereignisse", sagte er.
"Wenn wir diese Orte wieder öffnen wie vor dem Shutdown, sind wir in kürzester Zeit wieder dort, wo wir waren: im exponentiellen Wachstum."
Der SPD-Politiker warnte eindringlich vor Silvesterfeiern. "Partys über den engsten Kreis hinaus sind in diesem Jahr ein No-Go." Das hätte sofort eine neue Infektionswelle zur Folge, sagte er. "Größere Silvesterfeiern wären der schlechteste Start in das neue Jahr, den wir uns bescheren können."
Auch sei Deutschland "weit entfernt von einem normalen Weihnachten, wie wir es vor einem Jahr gehabt haben", fügte Lauterbach hinzu. "Jeder, der seine Familie besucht, muss wissen, dass man einander gefährden könnte." Gerade zum Fest der Nächstenliebe gehöre, dass man sich gegenseitig schützt.
"Nicht reisen, wenn man Symptome hat. Vor der Reise möglichst fünf Tage in Quarantäne gehen. FFP2-Maske tragen, wenn möglich. Viel Lüften, große Abstände halten." Trotzdem bleibe ein Risiko.
Die Fortschritte in der Impfstoffforschung nannte der Epidemiologe fantastisch. Allerdings könne man am Anfang nur die Hochrisikogruppen impfen, die übrige Bevölkerung wird auf das gesamte kommende Jahr verteilt. "Somit ändert der Impfstoff nichts daran, dass wir bis Ende 2021 mit dieser Pandemie zu kämpfen haben."
Eine Impfpflicht sei nicht erforderlich, sagte Lauterbach. "Die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, ist groß. Und je besser der Impfstoff ist, desto einfacher gelangt man zu Herdenimmunität."
Bei einem Impfstoff, der zu 90 Prozent wirkt, genüge es, wenn jeder zweite geimpft wird. "Dann ist die Pandemie besiegt."
Vor dem Hintergrund der verschärften Corona-Lage warnte der SPD-Gesundheitspolitiker vor einer Fortsetzung des bisherigen Schulbetriebs. "Wir kommen in eine Situation hinein, wo der Schulbetrieb für Kinder, Lehrer, Eltern und Großeltern zu einem hohen Risiko wird", sagte der Mediziner den Funke-Zeitungen. Er riet dringend dazu, die Schulklassen aufzuteilen.
Eine Möglichkeit sei, Präsenzunterricht und Homeschooling im wöchentlichen Wechsel anzubieten. Lauterbach forderte darüber hinaus, "im Winter durchgehend mit Maske" zu unterrichten.
Außerdem sollten mobile Luftfilteranlagen bereitgestellt werden, die viel wirksamer seien als das regelmäßige Lüften. "Die Anschaffung lohnt sich. Auch im Herbst 2021 werden wir sie noch brauchen", sagte er. Lauterbach äußerte sich unzufrieden mit den Fortschritten der Pandemiebekämpfung.
"Wir hatten jetzt acht Monate Zeit, die Teilung der Schulklassen und ein wirkungsvolles Homeschooling vorzubereiten. Daher ist es sehr schwer erklärbar, dass man immer noch darauf hofft, es mit Maskentragen und Lüften zu schaffen", sagte er. Einige Schulen setzten sogar allein auf das Lüften. "Das kann nicht funktionieren."
Gelinge es nicht, den Unterricht neu zu organisieren, werde man keine andere Wahl haben, als die Weihnachtsferien künstlich zu verlängern oder "eine zusätzliche Ferienepisode" etwa im Februar einzulegen. "Wenn wir einfach so weitermachen, wird der Schulausfall noch größer."
Lauterbach sprach sich dafür aus, die Schulen auf jeden Fall offen zu halten. "Aber die Art und Weise, wie die Schulen jetzt betrieben werden, ist nicht sicher genug", sagte er. "Wir wissen schon seit einem halben Jahr, dass Kinder andere Kinder und auch Erwachsene infizieren."
Kinder im Alter von zehn bis 19 seien so ansteckend wie Erwachsene. In Deutschland gebe es - einschließlich der Dunkelziffer - jede Woche in jeder sechsten Schulklasse einen Corona-Fall, in den Hochrisikogebieten sei es sogar jede dritte Schulklasse, sagte Lauterbach und berief sich dabei auf eigene Berechnungen.
"Die 300.000 infizierten Kinder, die jetzt genannt werden, sind nur die Spitze des Eisbergs. Kinder werden ja kaum getestet, weil sie in der Regel keine Symptome haben." Man erlebe eine Verlagerung des Pandemiegeschehens auf das Schulalter. "Der Wellenbrecher-Shutdown wird nicht ausreichend funktionieren, wenn wir das, was wir bei den Erwachsenen gewinnen, bei den Kindern wieder verlieren."
Auch der Städte- und Gemeindebund spricht sich gegen zu frühe Lockerungen aus. Die Infektionszahlen seien nach wie vor zu hoch und die Kontaktverfolgung gelinge nicht flächendeckend, sagt Hauptgeschäftführer Gerd Landsberg den Zeitungen der "Funke Mediengruppe".
Foto: Wegen Coronakrise geschlossener Laden, über dts Nachrichtenagentur